AG Wir haben genug: Dürfen die das? – Neue Protestformen

Diese rhetorische Frage stellte Sonja Zekri, Kulturkorrespondentin, Süddeutsch Zeitung, in einem Interview im Deutschlandfunk zum Thema.

 

Aller Frust schon rausgeschrien – Was kommt jetzt?

Kartoffelbreiverschmierte Bilder in Museen, Händekleber*innen auf Autobahnen und Rollfeldern in Flughäfen, Freitags-Schulschwänzer*innen, Waldbesetzungen und für die Polizei schwer räumbare Baumhäuser in großer Höhe (Hambacher Forst, bei dem ein Mensch ums Leben kam)), Baggerbesetzungen… Skandalöse Bilder, die die Medien füllten und füllen. Kaum jemand, der davon nicht gesehen oder gehört hat. Wird es weitere Eskalationen geben? Alles außer Rand und Band?

Wut bei denen, die sich getroffen sehen

Schimpfende, drohende oder gar handgreifliche Autofahrer*innen im Stau, Rettungsdienste, die nicht zu Verletzten durchzukommen drohen, entsetzte Museumsdirektor*innen, die die höchsten Kulturgüter geschändet sehen, Schuleinträge und Abmahnungen für Schüler*innen, aufgeschreckte Schulleiter*innen, Geldstrafen für Schülereltern, aufgebrachte Politiker*innen, die von Kriminellen, von Klimaterroristen sprechen (Söder, CSU-Vorsitzender)… Die Wogen kochen hoch.

Was ging da voraus?

Die Gründe sind bekannt und leicht nachvollziehbar. Auf beiden Seiten.

Bei den Protestierenden: die auf der Stelle tretende Politik, die außer ein paar Schönheitsreparaturen nicht wirklich eine Umkehr zuwege bringt, wo doch ein Klima droht, das in vielen Gegenden der Erde die Menschen, die dort leben nicht mehr verkraften können. Es sei daran erinnert, was über unsere Körpertemperatur von 37° hinausgeht, kann der menschliche Körper nicht ohne Schaden ausgleichen. Dazu überschwemmte Landstriche und Flutkatastrophen, die Häuser und Ernten zerstören und so die Lebensgrundlagen entziehen (z.B. das Ahrtal in Deutschland, kilometerbreite Landstreifen in Pakistan), Inseln, die ganz zu verschwinden drohen (z.B. Polynesien), Wirbelstürme und nachfolgende Flutwellen, die Menschen zur Flucht treiben (z.B. Indonesien, USA), Schneefälle und Temperaturen, die über Wochen die Elektrizität lahmlegen, Menschen erfrieren lassen und von jeder Versorgung abschneiden, Brände größten Ausmaßes (z.B. Australien, Kanada, die Länder in Südeuropa, Brandenburg in Deutschland), schmelzende Gletscher (z.B. Arktis, Antarktis, Alpen), die den Meeresspiegel um Meter anheben oder Hänge abrutschen lassen und Gerölllawinen in Gang setzen, die ganze Dörfer unter sich begraben (z.B. Schweiz), der Temperaturanstieg durch den Abgas-Ausstoß, der das Klima aufheizt, Wasserknappheit und verdorrte Felder, austrocknende Seen (z.B. das Kaspische Meer, Flüsse und Seen in Afrika und Südamerika), plastikverschmutzte Weltmeere und Meerestiere, ein großes Artensterben, giftige, unbewältigbare Müllberge, Gebiete, in denen der Boden ganzjährig gefroren ist, die drohen aufzutauen und zu riesigen Sumpfgebieten zu werden (z.B. Sibirien)… Menschen und Natur sterben.

Fast unüberschaubar und unfassbar ist die Fülle an Katastrophen und Problemfeldern, die der fortschreitende Klimawandel, die trotzdem immer weiter wachsende oft sinnlose Produktion und Warenfülle (siehe dazu Artikel) und die Untätigkeit der Politik bewirken. Wenn die Politiker*innen nichts zuwege bringen – wozu wir sie eigentlich haben, brauchen und wählen – nehmen es die Menschen selbst in die Hand. Ihr Entsetzen, ihre Verzweiflung und Empörung ist verständlich. Vor allem junge Menschen, die von den Auswirkungen noch weit mehr betroffen sein werden, kreieren unkonventionelle, öffentlichkeitswirksame Aktionsformen, um etwas Einschneidendes in Bewegung zu setzen, was möglichst die Politik dazu bringt, endlich entschieden zu handeln. Reden allein da genügt nicht.

Bei den empörten Bürger*innen: Das Tagesgeschäft will, muss bewältigt werden. Schließlich will man auch heute essen – nicht nur in Zukunft. Hektik und Druck in der Arbeitswelt und von Behörden nehmen ständig zu und damit die Anforderung auch auf der Autobahn, Ziele und Termine zu erreichen. Und die knappe Zeit für die Familie soll bitte nicht noch weiter beschnitten werden. Viele wollen einfach die Störungen im Fortgang, die sie oft nicht verstehen oder nicht einsehen wollen, nicht inkaufnehmen. Sie sehen Ordnung und Sicherheit gefährdet. Und manche sind auch von der Sorte: “Ich will fahrn, ich will fahrn…” Das Hier und Jetzt steht scheinbar einer lebbaren Zukunft entgegen.

Die neuen Protestformen – wirklich so neu?

Sind auffällige, medienwirksame Proteste, die Politiker*innen zum Handeln bewegen sollen, wirklich so neu? Seit den “wilden 60er Jahren” des vorigen Jahrhunderts sind Blockaden, sit-ins und lautes Dazwischenrufen in Universitäten, die Professor*innen am Unterrichten hinderten, um eine Studienreform zu erzwingen, bekannt. Und selbst die Kommunarden der 68er in Berlin bekamen von ihren weiblichen Mitstreiterinnen Tomaten entgegengeschleudert, weil diese die Frauen nicht ernstnahmen und auf läppische, “weibliche” Dienstleistungen reduzieren wollten. Eine Ohrfeige ins Gesicht des damaligen Bundeskanzlers Kiesinger, der im Nationalsozialismus Richter war und noch in den letzten Kriegstagen Todesurteile aussprach, verabreicht von Beate Klarsfeld, empfanden viele als mutige, moralisch gerechtfertigte Tat (1968). Langsam schlendernde Schüler*innen und Lehrlinge überquerten ununterbrochen den Zebrastreifen aus beiden Richtungen und blockierten so die Hauptverkehrskreuzung, um gegen stark erhöhte Fahrpreise zu demonstrieren (Freiburg im Breisgau 1968). Bauern überrollten mit ihren Traktoren Zäune am geplanten Atomkraftwerk (Whyl im Breisgau). In den 70er und 80er Jahren besetzten Atomkraft-Gegner*innen Bahnschienen und betonierten eine ihrer Hände in eine Badewanne ein. Blockaden der Friedensbewegung gegen neue gefährliche Atomraketen in den 80er Jahren (Mutlangen) und sich von der Polizei wegtragenlassen wurde selbst von Prominenten wahrgenommen (z.B. Prof. Walter Jens, bekannter Rhetoriker, Heinrich Böll, prominenter Schriftsteller, Jutta Ditfurth, Grünen-Politikerin der ersten Stunde). Menschen ketteten sich fest am Zaun des EuCom, der amerikanischen Kommandozentrale in Deutschland. Greenpeace-Aktivisten kletterten hoch an Hausfassaden, um auffällige Banner aufzurollen, blockierten mit Booten die Kriegsschiffe, die weitere US-Atombomben in der Südsee testen wollten und besetzten Bohrinseln. Die Hausbesetzerszene (z.B. Berlin und Hamburg) war nach Jahren des politischen Kampfes endlich erfolgreich und bekam teilweise die Erlaubnis besetzte Häuser zu renovieren und zu nutzen (1980er Jahre). Außenminister Joschka Fischer bekam einen Farbbeutel aufs Ohr (1999). Aktivist*innen ketteten sich fest an Eisengittern im Protest gegen das gewinnversprechende, unsinnige Bahnhofsprojekt Stuttgart21. Unangemeldete flashmobs, deren Aktionen und Spontandemonstrationen oder Spaziergänge mit Plakaten durch die Stadt umgehen das eingeschränkte Demonstrationsrecht und behindern den Verkehr. Unerschrockene Seenotrettungshelfer*innen fangen Flüchtlinge in maroden Flüchtlingsbooten im Mittelmeer auf, zwingen so Regierungen zum Handeln und hindern sie daran, die Menschen im Meer verschwinden zu lassen… Vieles ist also durchaus bekannt, auch hochriskante Aktionen. Aktivist*innen nehmen viel auf sich für uns alle.

Sind diese Protestformen kriminell? Sind die Protestierenden von Greenpeace, Ende Gelände, extinction rebellion, fridays for future, Letzte Generation… Klimaterroristen? Ist dieser Sprachgebrauch gerechtfertigt? Sollten die Akteur*innen hart bestraft werden?

Sehen wir mal klar: Terrorist*innen schießen, zünden Sprengkörper, werfen Bomben, zünden bewohnte Häuser an, inszenieren Messerattacken, sprengen Autos, fahren mit schweren Autos in Menschenmengen, entführen Flugzeuge, Politiker und andere Menschen, nehmen Geiseln, vergewaltigen, zwingen Kinder Soldaten zu werden, morden, … Diese Taten können gerechtfertigt als Terrorismus bezeichnet werden. Kriminelle handeln ohne Rücksichten auf Menschen und Besitz anderer aus Eigeninteresse für eigene Vorteile.

Zu fragen ist: Sind die ärgerlichen, nervenden, unbequemen Aktionen im Vergleich mit den zu erwartenden Folgen einer Klimakatastrophe vielleicht doch eher hinnehmbar? Sie halten auf, aber schädigen niemanden wirklich, sind nicht gefährdend. Sie sollen wachrütteln. Das können sie nicht, indem man nur zuhause sitzt und hofft. Für ihre Aktionen nehmen Aktivist*innen jahrelange Gerichtsprozesse, viel verlorene Zeit und Kraft, Verletzungen, Inhaftierungen, Geldstrafen… inkauf. Ihre Forderungen sind oft mehr als berechtigt. Die Staatsgewalt jedoch hat im Gegenzug in den letzten Jahren das Demonstrationsrecht beschnitten (Amnestie International rügt 2023 das zunehmend eingeschränkte Demonstrationsrecht hierzulande), Leute eingeschüchtert, Hausdurchsuchungen durchgeführt (zuletzt bei Mitgliedern der “Letzte Generation”, Mai2023 in 7Bundesländern), Schüler traumatisiert, Menschen das Augenlicht zerstört (z.B. Stuttgart, 30.9.2010)…, damit alles weitergehen kann wie zuvor.

Lichtblick: Die Berliner Staatsanwaltschaft hat nun die “Letzte Generation” als nicht kriminell eingestuft. (9. Juli 2023) Verlangte Gebühren für Entfernen von den Festklebungen, Wegtragen… müssen Behörden zurückzahlen.

Erste Gerichtsverfahren gegen gewalttätige Stau-Autofahrer hat das Gericht eingeleitet. Die dürfen das nicht!

Der Stand

Die Klima-Aktivist*innen haben bisher sehr moderate Forderungen gestellt (die ja nur einen Anfang im Kampf für das Klima darstellen können): weiterhin das 9Euro-Ticket, Höchstgeschwindigkeit 100kmh auf Autobahnen, Einrichtung von Bürgerräten. Die ersten beiden Forderungen wurden ignoriert. Bürgerräte soll es geben, sie sind zugesagt für den Bereich Ernährung. Wir werden sehen, ob ihre Ergebnisse sich in Realpolitik niederschlagen. Zeit zu warten haben wir nicht mehr.

Das Wissen ist vorhanden – über die Ursachen, Zusammenhänge, seit Jahrzehnten schon.
(dazu: Bericht Club of Rome, “Die Grenzen des Wachstums”, 1972) Und auch Wege und Werkzeuge, die den Klimawandel, der uns bedroht, stoppen können, die unumkehrbare Kippunkte nicht überschreiten sind da. Wissenschaftler warnen immer wieder. Doch der Weltklimabericht ist ernüchternd – jedes Jahr wieder. Es führt zu nichts. Wir als Bürger*innen müssen erkennen, wir allein können die Klimaerhitzung mit Einsparungen von Energie, Wasser… nicht stoppen. Es sind Regeln und Gesetze notwendig. Die brauchen wir jetzt! Gesetze, die konstruktives Handeln vor allem von Reichen, der Großindustrie, vom Handel und den Banken erzwingen, kein Ausweichen ermöglichen, sowie deren konsequente Kontrolle. Weltweit. Die großen Akteur*innen sind aufgerufen. Dafür können Politiker sich vehement einsetzen: Doch es ist scheinbar nicht wirklich gewollt. Nicht von der Politik, nicht von der Großindustrie und deren Lobbyist*innen, nicht vom globalen Handel… Sie ignorieren für Macht und Gewinne die tatsächliche Gefahr und deren unumkehrbare Folgen. Und: Sie sitzen an den entscheidenden Hebeln!
Sollten also eher Politiker*innen für ihr Nicht-Handeln und die Großindustrie, die in Billiglohnländer ausweicht, um konsequenten Bestimmungen zu entgehen, Reiche, die jetzt zunehmend Privatflugzeuge kaufen und nutzen, bestraft werden?

Weiter tun wie bisher heißt:
Nichts tun – was uns garantiert in den Abgrund führt.

Tipp: Derzeit gibt es eine Ausstellung zum Thema Protestformen noch bis 14.Januar 2024 in Frankfurt/Main.

  • Sollten wir als sogen. “Öffentlichkeit” den Mut und die Folgen, die die Klima-Aktivisten auf sich nehmen, nicht eher anerkennen?
  • Könnten wir den Aktivisten vielleicht auch mal sichtbar auf die Schulter klopfen, den Daumen statt dem Stinkefinger zeigen?
  • Wenn wir mal im Stau stehen, könnten wir die Zeit nicht auch nutzen, um inaktiven Politikern eine wütende eMail zu senden?
  • Wie könnten wir die ignoranten Großakteure (siehe oben) effektiver und deutlicher nerven?
Bildnachweis: Kevin Snyman auf Pixabay

Das Klima, Corona, der Russland-Krieg gegen die Ukraine… Einer Katastrophe folgt nonstopp die nächste. Jetzt „Weiter-so“?

  • Weiter mit dem Stress und der Hektik, den menschenverachtenden Bedingungen in der Arbeitswelt?
  • Weiter mit den wenigen Superreichen, die nicht mehr wissen, was sie mit ihrem Geld anfangen können – und den vielen, die in die Armut abrutschen und den Armen, die immer ärmer werden?…
  • Weiter mit der stetigen Erwärmung des Klimas – was uns ein erträgliches Leben verunmöglichen wird?
  • Weiter mit dem Artensterben, das die Natur, von der wir leben, aus ihrem sensiblen Gleichgewicht bringt?

In unregelmäßigen aufeinanderfolgenden Beiträgen, wollen wir von der AG „Wir haben genug“ attac Stuttgart verschiedene Aspekte der aktuellen Problematik aufgreifen und zur Diskussion stellen. Beteiligt euch. Mischt euch ein. Eine andere Welt ist möglich!