AG Wir haben genug: Brauchen wir Kunst und Kultur?

Brauchen wir Kunst und Kultur?

Monatelang sind im Sommer 2023 bis in den Herbst hinein die Filmschaffenden in den Hollywood-Studios, USA, auffällig laut geworden, haben gestreikt, von Juli bis Ende August die Drehbuchautor*innen, die Schauspieler*innen sogar bis Anfang November. Sie forderten bessere Bezahlung für sich und Überleben ihrer Kultureinrichtungen. Warum tun die das? Wir hören doch von Superstars und Filmproduktionen, die Millionen und Milliarden einbringen. Haben wir da nicht andere, brennendere Sorgen: Klima, Kriege, Energiekrise, Wohnungsnot, Medikamente, die fehlen…? Das Geld ist knapp. Sollten wir als Gesellschaften nicht das verfügbare Geld in grundlegendere Dinge stecken?

Wozu dient Kultur?

Uns oft gar nicht bewusst ist, wie sehr wir unsere persönliche Identität damit verbinden, welche Musik wir hören, Bücher, die wir lesen, Filme, die wir gesehen haben. Wir fühlen uns zugehörig über Gemeinschaften wie Vereine und ihre Feste, über kulturell geprägte Musik, Tanz, Theater, über gemeinsam geteilte Interessen, über unseren Einsatz als Freiwillige und Ehrenamtliche für unsere Gemeinschaf. Zur Kultur zählt alles, was uns unterscheidet vom Tier, die Sprache, auch wie wir unsere Mahlzeiten zubereiten, unsere Essensgewohnheiten, alle Rituale und Zeremonien. Diese Gepflogenheiten sind wesentlich für unsere Person und Persönlichkeit. Würde dies wegfallen, wäre ein großer Teil, dessen was wir sind und was uns ausmacht als Person und als Gesellschaft, verloren. Kunst vermittelt uns Werte, die wir teilen, die unser Miteinander gestalten und ermöglichen. Menschen berichten aus erlebten Krisen- und Umbruchzeiten, dass kulturelle Erlebnisse sie stützen und ihnen helfen zu überleben (aktuell z.B. geflüchtete Menschen aus dem Ukraine-Krieg). Wir lernen in Museen, Archiven und Bibliotheken für unsere Zukunft, was uns aus der Vergangenheit und aus anderen Gesellschaften und Kulturen bewahrt wird. Kunst und Kultur sind nicht nur Dekoration, Freizeitvergnügen, Luxus. Nur fürs Überleben zu sorgen, ist nicht genug für ein gutes, sinnvolles, gelungenes Leben.

Was schon die Bibel weiß: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein.“ (in: 5.Buch Moses Kap.8,3)

Nicht selten sind gesellschaftliche Entwicklungen oder Umwälzungen, was sozusagen „in der Luft liegt“, in den Kunstproduktionen (nicht nur in der science fiktion) vorweggenommen, noch bevor sie von Soziologen beschrieben werden oder bevor sich die Politik eines Themas annimmt. Kultur und Kunst sind keine weltentrückten Spielereien. Oft sind Künstler*innen rege, empfindsame, intuitive Zeitgenossen, die blinde Flecken des Zeitgeistes aufspüren und beleuchten, andere Möglichkeiten und Sichtweisen eröffnen, die darüber schreiben oder mit den Mitteln ihrer Kunst gestalten, verschiedene Facetten aufzeigen durch die Rollen, die sie als Darsteller*innen einnehmen. Künstler*innen recherchieren, analysieren, erproben und spielen Möglichkeiten durch. Sie versenken sich oft in ein Thema oder eine Fragestellung – wozu wir Arbeitenden in anderen Berufen im Tagesgeschäft kaum Zeit finden. Mit ihrem Reflektieren können sie uns zu Einsichten, Anstößen und erweitertem Nachdenken verhelfen.

Nicht ohne Grund ließen und lassen machtbesessene autoritäre Herrscher Bücher, Filme oder Kunstwerke verbieten oder gar verbrennen und abreißen. Sie halten Kritik und kritische Kunstwerke für äußerst gefährlich für ihren Machterhalt.

Kreativität, Spontanität – und Organisation

Kreative Ideen brauchen Raum und Räume, um umgesetzt zu werden. Teilweise lässt sich dies nur gemeinschaftlich organisieren. In allen Kulturen der Welt, besonders in einer hochentwickelten Gesellschaft wie der unseren geschieht dies über die Planung und Steuerung (und Steuergelder), die Infrastrukturpolitik, feste Einrichtungen wie Spielstätten, Theater, Kinos, Opernhäuser, Museen, Ausstellungsorte, Sporteinrichtungen, Versammlungsorte, Jugendtreffs, Rundfunk, Fernsehen, etc. Diese kosten Geld, ohne das es nicht geht. Hier ist ein kleinregional flächendeckendes Angebot gerade in öffentlicher Hand bzw. öffentlich gefördert mit einer nicht-kommerziellen Grundausrichtung notwendig. Dies gilt selbstverständlich auch für Ausbildungsstätten, wie Schulen Universitäten, Akademien, Übungs- und Proberäume, Auftrittsorte.

Sind solche Einrichtungen erst geschlossen und abgewickelt, ist das Personal entlassen, zerstreut, abgewandert hin zu anderen Verdienst- und Überlebensmöglichkeiten, ist es zu spät. Das gewesene Netz ist zerstört. Alle Spontanität, alle Kreativität ist nur möglich, wenn Einrichtungen dafür da sind oder geschaffen werden. Können wir nicht froh sein über unsere vielfältige, inspirierende Kulturlandschaft? Sollten wir einen Verzicht darauf zulassen? Ist es nicht auch so, dass wir tatsächlich darunter leiden, wenn wir ständig unter unserem geistigen und emotionalen Niveau bleiben müssen?

Wo nur am schnellen finanziellen Gewinn gemessen wird, geht vieles an Lebensmöglichkeiten, -gewinn und -qualität verloren. Eine rein materialistische Weltsicht, die behauptet, „Vor der Moral (oder der Kunst) kommt das Fressen“ (frei nach Bertold Brecht), verkennt, dass in bestimmten Lebenslagen Entscheidungen getroffen werden, wo es wichtiger ist, sich nicht unterkriegen zu lassen, zu bewahren, was man sich selbst, seinen Werten, Überzeugungen und Antworten auf die Welt schuldig ist. Einzelne Künstler*innen – und die können wir gewiss nicht als naiv ansehen – nehmen sogar Berufsverbote, Gefängnisstrafen, Verfolgung und Attentate auf sich. (z.B. Salman Rushdie, indisch-englischer Schriftsteller Nobelpreisträger, Narges Mohammadi, Frauenrechtlerin im Iran Nobelpreisträgerin, pussy riot, politische Aktivistinnen in Russland.)

Kultur zum Nulltarif?

Eine gewohnte wie erschütternde Realität: viele Kunstschaffende können von ihrer Kunst allein nicht leben. Prekäre Arbeitsverhältnisse sind im Kulturbereich leider weit verbreitet. Viele Künstler*innen müssen neben ihrer Kunst einem Brotberuf nachgehen. Doch Kunst braucht Zeit zum Wachsen, Entstehen. Die Produktion ist ein oftmals ausgedehnter Prozess, während dessen der Lebensunterhalt gesichert sein muss.
Das bedingungslose Grundeinkommen kann für Kunstschaffende in diesem Zusammenhang eine Möglichkeit sein, nicht unter die Armutsschwelle zu rutschen und Durststrecken menschenwürdig zu überstehen. (Siehe Blogbeitrag)

In den letzten Jahren kamen dazu noch immer neue Techniken auf den Markt, die den Künstler*innen Verdienstmöglichkeiten entzogen haben. Streamingdienste ermöglichen es Verbraucher*innen auf Platten und CDs zu verzichten, Computerprogramme wie Künstliche Intelligenz (KI) entziehen Drehbuchschreiber*innen, Übersetzer*innen, Sprecher*innen, bildenden Künstler*innen, Fotograf*innen, Musikerschaffenden Aufträge. KI nutzt das, was Kunstschaffende vorher geschaffen haben, denn diese Programme sind mit deren Arbeit (geistiges Eigentum!) gefüttert und trainiert. Kein Wunder, dass die Kulturbranche sich zur Wehr setzt. Ganz davon abgesehen verflachen dadurch z.B. Fernsehserien oder Filme, denn die KI verfügt eben doch nur über ein eingeschränktes Repertoire, das auf die Dauer langweilig ist.

Deshalb: Unterstützen wir die Kämpfe der Kulturschaffenden und Künstler*innen!,
die nicht vergessen: „Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ (Friedrich Schiller)
Kultur ist keine Ware!

Und wünschen und fordern wir eine Welt für uns, in der Arbeit und Einkommen so verteilt sind, dass jede*r genügend Geld auch für Kunst und Kultur – für Brauchtum, Pop und Hochkultur – erübrigen kann, in der uns – außer Hetze – Zeit für Muse, Sinn, Kunst und Kultur bleibt. Was für den Lebensmittelbereich, die gesundheitliche Versorgung, den öffentlichen Verkehr oder Schulen auf dem ausgedehnten Lande leider schon zutrifft, darf dort wie auch für den Kultursektor nicht hingenommen werden: Kultur gehört allen! Teilhabe muss möglich sein. Was derzeit für viele – nicht einmal in Deutschland – kaum zu verwirklichen ist. Da ist die Politik aufgefordert!

Was wir nicht brauchen:

  • Kunstwerke werden auf Kunstauktionen und an der Börse bei jedem Weiterverkauf jedes Mal teurer gehandelt, solange sie ihren Wert als Wertobjekt in der aufgeblähten Finanzwelt darzustellen vermögen und um das Prestige ihrer Besitzer*innen zu
    erhöhen. Kunstverstand und Wertschätzung gehen anders.
  • Superstars, die ihre Millionengewinne nicht versteuern und in Steuerparadiese ausweichen. Reiche, die immer reicher werden, weil die Gesetze in unserem Land es ihnen ermöglichen, während es immer mehr und immer ärmere Arme gibt.
  • Der Zwang, der von der sogenannten „Globalisierung“ und dem „Frei“-Handel ausgeht, der alles nur unter dem Blickwinkel der Gewinnmaximierung sehen will, führt dazu, dass an alle „Anbieter“ auf der Welt dieselben Zuschüsse bezahlt werden müssen wie für einheimische Produktionen. Das beschert uns neben anderem immer weniger Unterstützung für unsere Kultur.
  • Die Zuschüsse für Einrichtungen wie Stadtbibliotheken, Theater, Museen oder historische Bauten fallen immer geringer aus. Für die Nutzer dagegen gibt’s überall stetig ansteigende Preise. Sollten wir nicht beunruhigt sein über Meldungen wie Streichung von Geldern, Schließungen, Verkleinerung von Orchestern und Chören, Zusammenlegungen von Theatern und Sendern?

Um diese Möglichkeiten und Dienstleistungen bereitzustellen, bedarf es außer Worten eines kleinregional flächendeckenden Angebots. Viele Frei- und Hallenbäder in erreichbarer Nähe wurden in den vergangenen Jahrzehnten geschlossen. Die
Volkshochschulen müssen alle paar Jahre Kürzungen hinnehmen (bis zu 60% der Förderung in den 90er Jahren). Das bedeutet Schließungen, Entlassungen, dazu höhere Eintritts-, Kurspreise und Gebühren. Um einzusparen hat die Deutsche Regierung nun wieder beschlossen, 9 Goethe-Institute zu schließen. In den Niederlanden möchte der neugewählte rechtsaußen Wahlsieger Geert Wilders alle Zuschüsse für die Kultur beenden. (1)

Lichtblick: Zurückgenommen wurden gottseidank die Pläne, den Bundesfreiwilligendienst finanziell weniger zu unterstützen.

 

Was ist eure Meinung?

  • Sollten wir nicht doch CDs kaufen, damit Künstler*innen zu ihrem Geld kommen?
    Wenn die Fernsehserien zu langweilig werden, ist da das Kino oder das Theater vielleicht doch eine gute Alternative?
  • Möglicherweise können wir auch selbst aktiv werden in einer Theatergruppe, einem Zauberzirkel, einer Band, im Repair-Café?

Vielleicht habt ihr noch andere Ideen. Teilt sie mit uns. Am besten über unsere-Kommentar-Box unten.

Das Klima, Corona, der Russland-Krieg gegen die Ukraine… Einer Katastrophe folgt nonstopp die nächste. Jetzt „Weiter-so“?

  • Weiter mit dem Stress und der Hektik, den menschenverachtenden Bedingungen in der Arbeitswelt?
  • Weiter mit den wenigen Superreichen, die nicht mehr wissen, was sie mit ihrem Geld anfangen können – und den vielen, die in die Armut abrutschen und den Armen, die immer ärmer werden?…
  • Weiter mit der stetigen Erwärmung des Klimas – was uns ein erträgliches Leben verunmöglichen wird?
  • Weiter mit dem Artensterben, das die Natur, von der wir leben, aus ihrem sensiblen Gleichgewicht bringt?

In unregelmäßigen aufeinanderfolgenden Beiträgen, wollen wir von der AG „Wir haben genug“ attac Stuttgart verschiedene Aspekte der aktuellen Problematik aufgreifen und zur Diskussion stellen. Beteiligt euch. Mischt euch ein. Eine andere Welt ist möglich!