AG Wir haben genug: Wissenschaft und Bildung

Exzellent nur für wenige?

Die zukünftigen Ärzte, Ingenieure, Lehrkräfte, Chemiker, Geologen, Biologen… müssen heute ausgebildet werden. Die Forschung soll stetig voranschreiten und in allgemeinen öffentlichen Austausch treten. In Deutschland sind jedoch – bis auf 6, die man zu Exzellenz-Universitäten erklärt und ausstattet – die Gelder der Universitäten, Hochschulen, Akademien… seit 2007 ziemlich rigoros zusammengestrichen worden, Professoren und Hochschullehrer sollen seitdem Forschungsgelder selbst einwerben (Fundraising). Das kostet viel Zeit, die der Lehre und der Forschung, der Betreuung der Studierenden – den eigentlichen Aufgaben – verloren gehen. Und die Industrie gibt selbstverständlich Gelder dorthin, wo sie sich etwas (Gewinn) davon verspricht. So kann die Unabhängigkeit der Lehre nicht in vollem Umfang gewährleistet werden. Ist nicht auch zu fragen, weshalb die Wissenschaft eine so geringe Rolle spielt in der Beratung der Politik vor Ort gegenüber den allzeit sich geradezu aufdrängenden Lobbyisten aus der Wirtschaft?

Die erzwungene Änderung in der Ausbildung und an der Struktur an Hochschulen und Universitäten (Bologna-Prozess seit 1998) nach amerikanischem Muster (Bachelor, Master), der auf den internationalen Arbeitsmarkt und dem erstrebten Wirtschaftswachstum zugeschnitten wurde, hat dem deutschen Bildungssystem dabei dort ein starres, enges Korsett verpasst, wo Luft zum Denken, Experimentieren, bereichsübergreifende Ideen notwendig wären! Spielräume sind nun weitgehend verloren. Auch wurden kaum neue universitäre Stellen geschaffen, alte nicht wieder besetzt. Häufig gibt es Anstellungen für nicht einmal 1 ganzes Jahr. Die zurzeit von staatlicher Seite sehr übliche zeitl. begrenzte Projektförderung behindert ein kontinuierliches Arbeiten an Aufgabenstellungen. Es werden überhaupt in die Grundausstattung hinein mehr Gelder gebraucht. Für wissenschaftliche Mitarbeiter*innen, Assistenten*innen, wissenschaftliche Hilfskräfte… ist die Situation meist überaus prekär. Doktorand*innen, die eine universitäre Laufbahn anstreben, sind zu 93% befristet angestellt. (dazu: ver.di Publik 4, 2024)

Oftmals fällt diese aussichtslose Zeit schon in die Lebensphase der Familiengründung, darüber hinaus sind dann oft noch BAföG-Gelder zurückzuzahlen.

Ein übles Beispiel: die Lehrerausbildung. Seit Mitte der 1980er Jahre konnten z.B. Lehrer*innen kaum Anstellung in der Schule bekommen. Heute gibt es – inzwischen allen bekannt – viel zu wenig Lehrer*innen. Aber wer wollte dieses Fach noch studieren? Bei diesen beruflichen Aussichten? In den befristeten Anstellungen werden die mehrwöchigen Sommerferien nicht bezahlt. Wie es im Herbst für die betroffenen Lehrer*innen weitergeht, ob sie sich anderweitig bewerben sollten, bleibt offen und kümmert auf den Schulämtern scheinbar niemand (s. dazu: AG Wir haben genug: Nicht für die Schule… Wird die Schule ihrem Anspruch gerecht?) Die deutschen staatl. Stellen genügen hier ihrer Sorgfaltspflicht eindeutig nicht! Ohne entschiedenes Kümmern und ohne Geld von Seiten der Politik wird es nicht gehen.

Die Politik darf sich nicht fortgesetzt aus jeder Verantwortung herausziehen:
Sie muss zur Ermöglicherin werden.

 Schon in den 1970er Jahren wurde mit der Reform der Gymnasien, vor allem in der Sekundarstufe 2, ein Schritt weg von einer klassischen umfassenderen Bildung hin zu einem Kurssystem Spezialistentum mit nur einzelnen Schwerpunkten geschaffen. Dann (ab 2010) sollte deutschen Schulabgänger*innen der Gymnasien – so die politische Argumentation – mit der Verkürzung um ein Jahr auf 12 Schuljahre die Chance gegeben werden, sich früher in der Wirtschaft bewerben zu können. Schulabgänger*innen aus vielen anderen Staaten würden – weil 1Jahr jünger – mit ihrem früheren Start den deutschen Studienabgänger*innen Chancen in der Wirtschaft streitig machen. Hat das den jungen Menschen, der Wirtschaft, der Forschung, der Bildung hierzulande etwas eingebracht? Ist nicht ein größeres Problem, dass mehr als ein Drittel der Studierenden in Armutsverhältnissen lebt? Profitieren nicht wieder einmal nur die staatlichen Kassen? Geschuldet dem neoliberalen Wirtschaftssystem mit seinem Wachstums- und Sparzwang? Immerhin verursachen diese Menschen weniger Bildungskosten, sind 1Jahr früher Steuerzahler*innen, bezahlen 1Jahr früher in die Rentenkasse ein!

Ausbildung in den Betrieben:

Vor nicht allzu langer Zeit hörten Betriebe peu a peu auf Schulabgänger*innen auszubilden. Jahrelang konnten Schulabgänger*innen kaum Ausbildungsplätze finden. Heute klagen Betriebe über den Fachkräftemangel. Doch das wäre leicht absehbar gewesen. Über Jahrzehnte hinweg wollten deutsche Firmen sich darauf verlassen, ihre Arbeitskräfte aus dem Ausland zu holen und den Herkunftsländern die Ausbildungskosten aufzuladen. Aktuell gelingt es immer noch nicht, nun wieder vorhandene Ausbildungsplätze und vorhandene Schulabgänger*innen für beide Seiten zufriedenstellend zusammenzubringen.

Vielen Betrieben hierzulande ist zudem verloren gegangen, mit welchem Wissensstand und Fähigkeiten die jungen Menschen von der Schule kommen. Doch die Schulen sind ein ganz anderer, eigener  Kosmos als die Welt der Wirtschaft, die die jungen Leute „da draußen“ erwartet. Die Anforderungen, was von den Schulabgänger*innen erwartet wird, werden von diesen oft als unerwarteter, plötzlicher Schock erlebt. In den Unternehmen bringt es Unzufriedenheit. Da ist eine Anpassung von beiden Seiten – Ausbildungsstätten und Schulen – gefordert.

Wenn es um Auszubildende geht, die aus einem anderen Kulturkreis mit anderen Strukturen und Standards zu uns kommen, will man in den Ausbildungsstätten, Betrieben, den Schulen oft nicht zusätzlich viel investieren, um für hiesige Verhältnisse, bei sprachlichen Voraussetzungen, z.B. beruflich wichtiger Fachsprache, Lücken zu füllen. Für das, was sie brauchen an Einweisung in etablierte Gepflogenheiten im beruflichen Bereich, benötigt es: Geduld, Bereitschaft zur Einfühlung – und vor allem Investition an Zeit. Darauf wird in den Betrieben noch immer eher mit Abwehr reagiert. Die jungen Menschen selbst sind meist sehr ambitioniert und aufgeschlossen, wollen etwas erreichen. Da darf Inklusion nicht nur ein Schlagwort bleiben, niemand sollte abhängt werden. Hier ist eine gut verzahnte realitätsnahe Zusammenarbeit zwischen Ausbildungsstätten und Berufsschulen gefragt. Lotsen im Dschungel des deutschen Ausbildungssystems, individuell abgestimmte Angebot e und Beratung müssen dazugehören.

Auch die zunehmende Bürokratisierung mit ihren zahllosen Formularen, Dokumentationspflichten… und das Erfordernis an Zeit dafür hat ihren Teil dazu getan, Betriebe oftmals von der Aufgabe der Ausbildung nachfolgender Generationen abzuhalten. Doch sie verstecken sich auch gerne hinter diesem Argument. Der schwarze Peter wird in Deutschland heute noch zwischen Industrie/Arbeitgebern und Politik hin- und hergeschoben.

Das positive Beispiel: Duale Ausbildungen – ein Teil im Betrieb, ein Teil an Universität, Hochschule, Berufsschule… – können praktische Anwendung und Theorie in der sich schnell wandelnden Arbeitswelt gewinnbringend zusammenführen. Der duale Ansatz zeichnet die berufliche Ausbildung in Deutschland seit langem aus. Eine sinnvolle Ergänzung zur betrieblichen Ausbildung war immer die Berufsschule. Dazu gekommen sind Universität, Hochschule…. Doch auch diese vom Staat zu verantwortende Hälfte, fristet oft eine kaum wahrgenommene Existenz am Rande, ist schlecht ausgestattet. Vor allem diese Aufgaben entschieden anzunehmen und Investitionen in gut ausgebildete zukünftige Arbeitskräfte sind hier verlangt – von der Wirtschaft und von der Politik.

Weil nichts bleibt, weil nichts bleibt, wie es war*

*aus dem bekannten Song von Hannes Wader „Heute hier, morgen dort“ 1972, leicht abgewandelt

Die Veränderungen in der Berufswelt nehmen laufend an Tempo auf, schneller als je zuvor. Die Menschen, die neu an einer Arbeitsstelle anfangen, sind schon meist anders ausgebildet, als die alteingesessenen Kolleg*innen, auf die sie im Betrieb treffen. Immer mehr Spezialisierungen halten Einzug ins Arbeitsleben. Lernen und Bildung – das ist abzusehen – werden zunehmend das ganze Leben begleiten. Das bedeutet nicht nur laufend Dazu- und Umlernen am Arbeitsplatz, sondern auch externe Fort- und Weiterbildung, Umschulungen und berufsbegleitende Studiengänge, was nicht von den arbeitenden Menschen, sondern, weil zu ihrem eigenen Nutzen, gerechterweise von der Wirtschaft getragen werden muss. Die Erfordernisse aufgrund des rasant voranschreitenden Klimawandels, der zunehmend auf den internationalen Markt drängenden ausländischen Konkurrenten, der Entwicklung der künstlichen Intelligenz (KI), dem scheinbar „immer mehr“ verlangenden unersättlichen herrschenden kapitalistischen Wirtschaftssystem… (s. dazu: AG Wir Haben Genug – Fortschritt, der zur Bedrohung wird), wird mehr Umdenken, Umsteigen, zusätzliche Kenntnisse und Bereitschaft zur Flexibilität – oft immer wieder – von den Firmen, den Verwaltungen und den arbeitenden Menschen verlangen. Die Fragen, wo wird was gebraucht, wo fällt was weg, wo kommen weitere Ansprüche, notwendige Fähigkeiten und Fertigkeiten hinzu, spielen eine immer größere Rolle. Umdenken, Umorientierung ist gefordert in spezialisierte Berufszweige, in aktuellstes Wissen und Techniken. Nicht nur die Computer verlangen, dass man sich und sie neu einstellt. Ganze Berufszweige brechen weg. Oder Firmen schließen am gewohnten Ort. Lebenskonzepte müssen umgeworfen werden. Die wieder aufkommende Sorge, ob genügend Arbeitsplätze vorhanden sein werden, der Lebensunterhalt gesichert werden kann und der sich abzeichnende Konkurrenzkampf unter den Arbeitenden verunsichern und verhärten oftmals die Atmosphäre. Das kann furchteinflößend wirken.

In Deutschland haben die von den Arbeitsagenturen initiierten Bildungsangebote in der Vergangenheit all zu oft alle Teilnehmer*innen über einen Kamm geschert nach dem Motto: Egal was, wir bilden mal, schaden kann es nicht. Sie bereinigten in vielen Fällen damit nur ihre Arbeitslosen-Statistik. Und frustrierten die Teilnehmenden. Wenn motivierte Betroffene sich selbst auf den Weg machen, können sie nicht einfach in naheliegendes, kostengünstig Vorhandenes reingesteckt werden. Sie brauchen passgenaue Unterstützung im Auffinden von für sie geeignete Möglichkeiten auf dem Bildungsmarkt. Jede*r sollte sein Potential an Fähigkeiten entwickeln und ausschöpfen können. Die Finanzierung dafür muss abgesichert sein, eine Begleitung für eventuelle Korrekturen im Ausbildungsgang – auch um Gelder nicht fehlzuleiten – sollte von Seiten der Arbeitsämter dazugehören.

Im Ausland erworbene Abschlüsse werden bei den Behörden und Arbeitsagenturen hierzulande kaum anerkannt. Da ist ein genaueres Hinsehen vonnöten, wo Lücken bestehen, wo aber auch Ausbildung und Erfahrungswissen gut integrierbar sind im deutschen Arbeitsmarkt und wo berufsbegleitende Nachschulung möglich ist. Chancen für Betriebe und Menschen.

Viele Lücken an Bildungsangeboten werden auch von den VHSen und anderen Bildungsträgern geschlossen. Doch auch hier wurden in den letzten Jahrzehnten ca. ein Drittel der staatl. Gelder gekürzt. Die Lehrkräfte sind meist scheinselbständig als Honorarkräfte angestellt. Das bedeutet: sie haben keinerlei Sozialversicherung, keinen Verdienst während Ferien- und Krankheitszeiten, müssen oft zwischen mehreren Bildungseinrichtungen hin- und herpendeln wegen Geringbeschäftigung und verdienen ein Bruchteil gegenüber festangestellten Lehrer*innen an staatlichen Schulen. Diese Praxis gehört endlich beendet.

Zur viel beschworenen Flexibilisierung gehört, dass sich nicht nur Arbeitnehmer*innen flexibel in allen Bereichen zeigen, das ist auch von den Arbeitgeber*innen verlangt. Dort wo es aus gesundheitlichen oder familiären Gründen gegeben ist, muss die Arbeitszeit flexibel der Lebenssituation angepasst verkürzt werden können (Lebensarbeitszeit) oder das Renteneintrittsalter vorgezogen werden. Ebenso muss, damit altes Wissen, Handwerk, Praktiken, Erfahrung nicht plötzlich abgeschnitten sind, sondern weitergegeben werden können und nicht verloren gehen, das Renteneintrittsalter dringend flexibilisiert werden in Richtung Verlängerung. Zusammenwirken ist das Gebot der Stunde: Weniger Stunden am Tag arbeiten viele ältere Menschen auch gern über die derzeit geltende Renteneintrittsgrenze hinweg und geben ihr erarbeitetes Wissen weiter – wenn sie selbst mitsteuern können, wie viel Einsatz sie bringen möchten und können. Hier ist allerdings von der Politik ein rigoroses Umdenken im Rentensystem verlangt.

Die Wandlungen werden mehr noch als jetzt für die Menschen zu jedem Berufsweg gehören. Für die Wirtschaft gilt, wenn ihre Firmen überleben wollen, dasselbe.

Deshalb:

BILDUNG muss ganz groß geschrieben werden.

Das geht nicht, ohne dass die Politik praxisnäher agiert und Geld dafür in die Hand nimmt.

Mehr in die Pflicht genommen werden muss dazu auch die Wirtschaft.

 

Wie könnte Bildung an den unterschiedlichen Einrichtungen besser, realitätsgerechter klappen? Kennt ihr Beispiele?

Wie könnten wir Politikern Beine machen, Geld dort hinzugeben, wo es evtl. mehr gebraucht wird als in der Rüstungsindustrie?

Wie ist eure Meinung? Teilt sie mit uns. Diskutiert mit. Am besten über unsere Kommentar-Box àunten

Bildnachweis:

Bild: Gerd Altmann / Pixabay

Quellen:

Das Klima, Kriege, Terror, Hass, Gewalt, Hyperreiche, Ausbeutung, Armut, Flucht… Unrecht überall. Jetzt „Weiter-so“?

  • Weiter mit der stetigen Erwärmung des Klimas – was uns ein erträgliches Leben verunmöglichen wird?
  • Weiter mit dem Artensterben, das die Natur, von der wir leben, aus ihrem sensiblen Gleichgewicht bringt?
  • Weiter mit dem immer monströser werdenden Gegensatz von Reich und Arm, mit den vielen, die hier und im Globalen Süden in die Armut abrutschen, mit den Armen, die immer ärmer werden?…

In unregelmäßigen aufeinanderfolgenden Beiträgen, wollen wir von der AG „Wir haben genug“ attac Stuttgart verschiedene Aspekte der aktuellen Problematik aufgreifen und zur Diskussion stellen. Beteiligt euch. Mischt euch ein.

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