AG Wir haben genug: Nicht für die Schule… Wird die Schule ihrem Anspruch gerecht?

Wenn es nicht nur für die Schule zu lernen gälte, sondern fürs Leben, wäre es dann möglich, dass Jugendliche in Deutschland aus ihr entlassen werden, die zu diesem Zeitpunkt schon hochverschuldet sind, weil sie glauben mit einem Klick auf ihren Handys ohne weiteres alles einfach so erledigen zu können? Und das sei dann auch erledigt? Jugendliche, die nichts wissen darüber, was es wirklich bedeutet für sie, wenn sie ständig ihr kleines Budget auf ihrem Konto mit 10 % oder gar 20 % Dispositionskredit überziehen. Dass dieses Minus sich galoppierend vermehrt mit den zusätzlichen Zinsen auf die Zinsen von den Zinsen, und diese Schuldenlast doch zurückbezahlt werden muss von dem, was man eben hat. Sie starten mit Schulden ins Leben. 2023 waren bei der Schuldnerberatung 6,65 % der Ratsuchenden zwischen 20 und 25 Jahre alt (Statistisches Bundesamt). Alle Schüler*innen lernen Zinsrechnen, aber die mit dem Schuldenproblem konnten es nicht übertragen auf ihre eigene reale Situation. Was lernen sie über die Übertragbarkeit ihres Wissens auf praktische, lebenswirkliche Probleme? Evtl. folgt ein lebenslanger Eintrag ins Schuldenregister SCHUFA. Und könnte es dann so viel Unwissen bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen geben darüber, dass Unternehmen all ihre Daten abgreifen können von jedem Klick ins Internet? Einmal Gesammeltes wird nie wieder gelöscht. Auch bloßstellende Inhalte und Bilder nicht. Immerhin kann es Folgen haben für ihre künftigen Bewerbungen, einen Mietvertrag. Was diese Firmen mit ihren Daten vorhaben, bleibt ihnen verborgen. Raffiniert arbeitende Werbeagenturen, deren Geschäftsmodell es ist, diese Daten (viel) geldbringend zu verkaufen, setzen sie für eigene Zwecke ein. Unentwegt zum Kauf manipulieren Influencer*innen und sonstige Werbung. (Siehe Blogbeitrag „Kleiderfrage“) Wer lernt etwas darüber, welchen Vertrag man vielleicht besser nicht unterzeichnen sollte, etwas über Verbraucherrechte, Beratungsstellen, Versicherungen, welche man braucht, warum und welche nicht, den Umgang mit Geld überhaupt? Doch in den verpflichtenden Lehrplänen kommt dieses Thema nicht vor. Die jungen Leute sind mit politisch verschleppten, strukturellen Problemen alleingelassen.

Wann kommen Themen wie Fremdenfeindlichkeit, Mobbing, gefährliche Situationen und das Verhalten darin, der Holocaust und wie es dazu kam, Verschwörungstheorien, Fakes, und wie man sie erkennen kann, in unserem Schulalltag in Deutschland vor? In den seltensten Fällen! Die aktuellen erschreckenden vielfältigen Probleme (Klima, Verwüstungen, Anschläge, Kriegsgefahren, Militarisierung) können Schüler*innen oft nur untereinander austauschen und besprechen. In der derzeitigen Kriegslage in der Ukraine sind hiesige Politiker jedoch schnell dabei, die Bundeswehr mit festen Programmen in den Schulen etablieren zu wollen, um für das Militär und den Soldatenberuf zu werben schon bei Kindern ab 12 Jahren (Ministerpräsident Söder, CSU). Wie viel lernt man dagegen über funktionierende Kommunikation und Zusammenarbeit, Möglichkeiten der Konfliktbewältigung, wehrhaft sein, Haltung zeigen ohne Gewalt? Dass man nicht aufeinander einschlagen, sich nicht anfeinden muss, wenn man über etwas verschiedene Ansichten hat? Wie findet Demokratie und Mitbestimmung in den Schulen wirklich statt?

Auch das ganz normale friedliche Alltagsleben kommt immer weniger vor in den staatlichen Regelschulen hierzulande. Der Hauswirtschaftsunterricht, Handarbeiten und Werken (nebst Musik und Schwimmen) wurde in vielen Bundesländern eingestellt. In einer Bremer Schule wurden neulich erst die 3 Fächer in einem Versuch für ein halbes Jahr zusammengelegt. Die Kinder äußern sich begeistert. Sie haben für sich leckeres, gesundes Essen gekocht oder das Bügeln gelernt (Deutschlandradio Kultur).

Welche*r Jugendliche kann heute noch kleine Reparaturen an seiner/ihrer Kleidung oder am Fahrrad selbst vornehmen, einen Nagel gerade einschlagen, gesunde von ungesunden Lebensmitteln unterscheiden, weiß, welches Gemüse, welches Obst wann reif ist, wenn er/sie die Schule beendet hat? Wie man einen Haushalt selbständig schmeißt, Babys versorgt – alles was auf einen zukommt im Ernst des Lebens, was davon kommt in den deutschen Staatsschulen vor? Und wann wird sich noch bewegt an den langen Schultagen?

Es gibt mehr als Rechtschreiben, Mathematik, Regellernen, weit mehr wie den traditionellen Fächerreigen, in dem die Lehrpläne getaktet und überfüllt sind und so gut wie keinen Raum lassen, auf die Bedürfnisse der jungen Menschen flexibel einzugehen, mit denen man als Lehrer*in fast jeden Tag für lange Zeit zusammen ist. Theoretisches Wissen bleibt oft nur abfragbare oberflächliche Kenntnisse über Zahlen und Daten. Befähigt das, es im eigenen Leben umzusetzen? Stunden, die man als Schüler*in oft vor Desinteresse, Langeweile und Hilflosigkeit auch nur absitzt. Immer mehr Aufgaben und Inhalte hat die Politik über Jahrzehnte hinweg allein dem Lehrpersonal aufgebürdet und selbst die Augen verschlossen, wie wichtig Bildung und funktionierende Schulen für ganze Generationen sind, was dafür gebraucht wird, welche Strukturen notwendig sind. Nach jeder sog. Reform wurden die Lehrpläne weiter angefüllt, statt entschlackt und so der Druck für Lehrer*innen und Schüler*innen erhöht. Inklusion wird verlangt, aber sie soll einfach so funktionieren ohne viel Aufwand. Schon zu Schulbeginn kommen viele Kinder ohne genügend Deutschkenntnisse in die Schulen. Flüchtlingskinder – wie seinerzeit schon die „Gastarbeiter“kinder – werden häufig ohne Deutsch-Kenntnisse in die vorhandenen Klassen gesetzt.

Noch einmal drastisch hat der Umgang mit der Corona-Krise vor Augen geführt, wie ungerecht sich das derzeitige System auswirkt: Die Schulen waren geschlossen, die Kinder auf das Lernen am Computer verwiesen – und den hatten nicht alle zu Hause. Kinder mit Eltern, die Grundsicherung erhalten, haben aktuell jährlich 195 € für Schulmaterial. Oder sie sollten Tablett oder Rechner zu gleicher Zeit teilen mit Geschwistern und Eltern im Home-Office. Und woher sollten nun die nötigen Kompetenzen im Umgang mit den Geräten plötzlich kommen? Chancengleichheit bleibt somit eine leere Floskel. Alle anderen Schwierigkeiten, wie Aggressionen in engen Wohnungen, Bewegungsmangel, sich selbst überlassen sein in jungem Alter, ungewohnt im allein Lernen, Vereinsamung – darüber wird gesprochen, wenn es vorbei ist. Ein Fair-Siegel kann man dieser Politik nicht ausstellen.

Zuvor tat das von der Politik ausgehende „Faule-Säcke-Zitat“ (1995, Gerhard Schröder, SPD, Ministerpräsident in Nordrhein-Westfahlen) seine Langzeitwirkung. Damit hatte man ein Lehrer-Bashing in die Welt gesetzt und einen ganzen Berufsstand schlechtgeredet. Mit den entstehenden Problemen aber waren die Lehrer*innen alleingelassen, damit nicht offenbar werden sollte, was eigentlich unübersehbar war: Es gab zu wenig Lehrer*innen in allen Bundesländern. Nahezu 30 Jahre wurden keine neuen eingestellt, Pädagogische Hochschulen geschlossen oder geschrumpft. Geschuldet dem Glauben an den Neo-Liberalismus, der den Rückzug des Staates aus allen öffentlichen Bereichen befolgte und einen Sparzwang zur Folge hat. Das geschah in eine Situation hinein, in die sich noch die Folgen des „Radikalenerlasses“ (gegen KPD, MLPD…) aus den 1970er Jahren auswirkten. Da schon waren die Reihen ausgedünnt worden und oft gerade besonders engagierte, kritische Lehrer*innen aus diesem Beruf entfernt. Zahlreiche Lehrer*innen brannten in den Folgejahren unter der zunehmenden Belastung vorzeitig aus und mussten in Rente gehen. Zudem zeichnete sich ein Ende dieser Lehrergeneration ab: Viele Lehrer*innen gingen und gehen noch zu ungefähr derselben Zeit in Ruhestand. In den 1990er Jahren wurden Lehrer*innen verwiesen auf die Stoffvermittlung – das sei ihre Aufgabe. Erziehung sei Sache der Eltern. Zusammenlegung von Schulen und Vergrößerung der Klassen sollten von Staatsseite her die einzigen Maßnahmen zur Bekämpfung des Lehrermangels sein. Stundenausfall war trotzdem immer öfter die Folge.

Um 2010 fingen Schulen an, Programme für einfache Dinge, wie Verhalten und Ordnung im Klassenzimmer und auf dem Schulhof mit den Schüler*innen einzuüben, weil die Probleme zu auffällig wurden. Vandalismus war zu einem großen Problem geworden. Lehrer*innen wurden bedroht oder hinter der Schule zusammengeschlagen – nicht nur 2006 in der damals skandalumwitterten Rütli-Schule in Berlin – doch die schwiegen oft aus Scham. Schüler*innen waren so verzweifelt, dass sie Amok liefen und um sich schossen. Mit einem mal sollten die Lehrer*innen wieder erziehen, da die Eltern dieser Aufgabe oftmals nicht nachkommen konnten. Inzwischen ist deutlich geworden, dass Kinder und Jugendliche als ganze Menschen im Leben stehen, die man nicht nur mit Lernstoff anfüllen kann. Alles Menschliche und Zwischenmenschliche blieb zu lange fast auf der Strecke in den deutschen Schulen und damit auch die sogenannten Soft Skills, die im Beruf dann sehr geschätzt werden. Diese Vernachlässigung liegt in der Verantwortung von Bund und Ländern. Auch wenn inzwischen Schulpsychologen und Sozialarbeiter in den Schulen mitarbeiten, Schüler*innen als Streitschlichter ausgebildet wurden, es ab 1. August für ausgewählte Schulen in schwierigen Lagen Extra-Zuschüsse geben soll – es ist noch immer viel zu wenig, um die Defizite des Systems aufzufangen. Das System krankt dahin.

 

Bildung ist Ländersache

In Deutschland ist in vielen Bundesländern für Lehrer*innen bis heute kein Wechsel in eine Schule eines anderen Bundeslandes möglich. Bildung ist Ländersache und überall sind die Lehrpläne und teilweise die Strukturen unterschiedlich. Die Länderbehörden erkennen die Ausbildung in anderen Bundesländern untereinander oft nicht an. Eine Einigung hierüber haben sie seit Bestehen der Bundesrepublik nicht geschafft. Auch eine Nachschulung ist nicht möglich. Umzug über Ländergrenzen hinweg steht für Lehrer*innen nicht infrage, ansonsten müssen sie ihren Beruf aufgeben. In einer Zeit, in der man sich in allen anderen Berufen weltweit bewirbt, bleiben deutsche Lehrer*innen auf nur 1 Bundesland beschränkt. Auf Jahre hinaus konnten Lehrer*innen kaum eine Stelle bekommen. Lieber nehmen die Schulämter in Kauf befristete Anstellungen zu schaffen, nur jeweils bis zu den nächsten Sommerferien. So kann Geld eingespart werden in den langen Sommerferien. Und das in einem reichen Land wie Deutschland! Lehrer*innen stürzt das – außer während dieser Zeit keine Bezahlung zu haben – regelmäßig in ein Dilemma: Bekomme ich eine weitere Anstellung im Herbst oder nicht? Soll ich mich nach einer anderen Verdienstmöglichkeit umschauen und mich dort verpflichten? Das verbaut mir aber die Chance auf eine evtl. Anstellung in der Schule. Diese Praxis besteht seit mehr als 50 Jahren. Wer wollte dieses Fach noch studieren? Statt in den Ländern zuallererst die Lehrerausbildung gleich zu werten und Lehrerstellen zu schaffen, werden in der eklatanten Not inzwischen Quereinsteiger*innen eingestellt. Für sie ist neuerdings sogar eine verkürzte Ausbildung angedacht. Wie kann es sein, dass die Politik hierzulande jahrzehntelang außer Stande ist planvoll voraus zu denken?

Die anderen Möglichkeiten

Dabei gibt es langjährige Schulversuche, in Deutschland meist von privaten Eltern- oder Lehrerinitiativen getragen, teilweise wissenschaftlich begleitet, die bewiesen haben, wie gut sie funktionieren. Sie arbeiten ganzheitlicher und individueller, kindgerechter, sind motivierender,

  • weil oft mehr Eigenverantwortung, Selbstregulation und Initiative für Kinder und Lehrpersonen möglich ist und Lernen auch im wirklichen Leben und nicht nur in den Schulen stattfindet,
  • weil fantasievolles, anregendes Lernmaterial an einigen Freien Schulen jederzeit zugänglich und spielerisches Ausprobieren für die Kinder selbstverständlich ist,
  • weil eine Zukunft, die viele noch ungeahnte Veränderungen bringen wird, mit in den Blick genommen wird.

Ein 45 Minuten-Takt, Jahrgangsklassen und ein Einteilen der Kinder in ein 3-Klassensystem (Hauptschule, Realschule, Gymnasium) schon mit 10-11 Jahren, Frontalunterricht, einseitiges Setzen auf Wettbewerb und kurzfristiges Schielen auf Noten, scheinen in diesen alternativen Lernkonzepten wie aus der Zeit gefallen. Ist es nicht notwendiger verlässliche Schulzeiten einzuführen mit feststehenden Anfangs- und Schlusszeiten, bevor eine reguläre Einführung von Ganztagesschulen angestrebt wird, damit Eltern und Arbeitgeber planen können? Konzepte wurden vorgelegt, Anträge gestellt, doch lernen wollen die staatlichen trägen Stellen hierzulande davon wenig – kaum etwas darüber wissen, die Finanzierung wird erschwert. Schweden und Finnland z. B. haben längst ihr Schulsystem anders organisiert. Mit mehr Erfolg und Freude am Lernen (dazu: freie aktive Schulen, Montessori-Schulen, Waldorfschulen, Fröbel-Schulen, Jena-Plan-Schulen, Freinet-Schulen, Freie Schule Frankfurt, Glockseeschule Hannover)

Misere vor Ort

Augenfällig für jede*n, der/die ein staatliches Schulhaus in Deutschland betritt, ist der bauliche Eindruck der Gebäude. Die Schulgebäude waren und sind großenteils noch immer in einem maroden Zustand: unhygienische, müffelnde Teppichböden, Computerkabel, die auf den Böden verlegt sind und gefährliche Stolperfallen darstellen, teilweise nur mit Klebeband befestigt. Von den Decken kracht hie und da Putz herunter, Es gibt Toilettenräume mit zerbrochenen Waschbecken und Klo-Brillen. Das ist keine Seltenheit. Blamabel für jede Kommune. Welches Bild an Wertschätzung gibt das der Jugend? Motiviertes Lernen wird hier erschwert. Doch viele Gemeinden, zu deren Aufgabenbereich die Schulgebäude gehören, waren und sind hoch verschuldet. Auch andere kommunale Lernorte sind betroffen: Bibliotheken kürzen ihre Öffnungszeiten vielerorts und in den Stadtteilen verschwinden immer mehr davon. Kultureinrichtungen haben in den letzten Jahren ihre Preise teils drastisch erhöht und damit die Schwelle zur Teilhabe (Siehe dazu Blogbeitrag „Brauchen wir Kultur“).

  • Geschätzt wie viel Leerlauf habt oder hattet ihr in eurer Schulzeit?
  • Habt ihr Ideen, wie eine Schule, in der man gern und motiviert lernt, sein sollte?
  • Sollten Schüler, Eltern und Lehrer mal zusammen streiken für bessere Schulen?
  • Oder was könnte helfen? Wie könnte man die staatlichen Stellen dazu bringen, mehr Geld für die Bildung der Jugend bereitzustellen? Was meint ihr?
  • Welche Wünsche und Ideen habt ihr? Teilt sie mit uns. Am besten über unsere Kommentar-Box unten

Bildnachweis:

Image by Thomas G. from Pixabay

Quellen:

Das Klima, Corona, Kriege…: Einer Katastrophe folgt nonstopp die nächste. Jetzt „Weiter-so“?

  • Weiter mit der stetigen Erwärmung des Klimas und der Meere – was uns ein erträgliches Leben verunmöglichen wird?
  • Weiter mit dem Artensterben in den Ozeanen und Flüssen, das die Natur, von der wir leben, aus ihrem sensiblen Gleichgewicht bringt?
  • Weiter mit dem fahrlässigen Umgang mit unseren Trinkwasserreserven?
  • Weiter mit Privatisierungen, Mega-Projekten, Land- und Quellenraub hierzulande und im Globalen Süden?
  • Weiter mit den Energie- und Wasserkonzernen, die das Geld für ihre Shareholder vermehren, während Kleinbauern weltweit in die Armut abrutschen?

In unregelmäßigen aufeinanderfolgenden Beiträgen, wollen wir von der AG „Wir haben genug“ attac Stuttgart verschiedene Aspekte der aktuellen Problematik aufgreifen und zur Diskussion stellen. Beteiligt euch. Mischt euch ein.

Eine andere Welt ist möglich!