AG Wir haben genug – Krieg und Frieden: Wechselwirkungen mit dem Wirtschaftswachstum

Gerade im Zusammenhang des Kriegs in der Ukraine ist Menschen, die sich um die Auswirkungen unseres Lebensstils auf Klima, Ernährungssicherheit, Biodiversität, Wasserressourcen und andere Lebensgrundlagen kritische Gedanken machen, vielfach eine Erkenntnis aufgegangen: Zusätzlich zum ökologischen Fußabdruck, den wir alle auf unserem Planeten Erde in unterschiedlicher Größe hinterlassen, muss man auch von einem „Stiefelabdruck“ sprechen, der durch militärische Einwirkungen verursacht wird. Dieser Stiefelabdruck wird von uns natürlich nicht individuell verursacht aber kollektiv von den Gesellschaften, Nationalstaaten, Bündnissystemen, deren Mitglieder wir sind und die militärische Unternehmungen jeweils in Gang setzen können.

Schon die Herstellung von Kriegswaffen und Rüstungsgütern allgemein ist ein bedeutender Marktfaktor. Es wird zwar gern behauptet, dass die Rüstungsindustrie nur einen verschwindenden Anteil an der Gesamtzahl der in einer Volkswirtschaft beschäftigten Arbeitskräfte ausmache. Dennoch ist die Idee einer Umstellung, einer „Konversion“ von militärischer auf zivile Produktion in der öffentlichen Diskussion. Seit den 1960er Jahren spricht man zutreffend vom „militärisch-industriellen Komplex“ (ein auf den US-Präsidenten und vorhergehenden General Eisenhower zurückgehender Begriff). Diese Bezeichnung entstand im Hinblick auf die gemeinsamen Großanstrengungen von Militär und Industrie im 2.Weltkrieg. Sie richteten sich zunächst auf die beschleunigte Entwicklung des engmaschigen Radarsystems, das zum Schutz Großbritanniens vor deutschen Luftangriffen diente, danach auf das gigantischen Atomprogramm zum Bau der ersten Atombomben, die in der Folge auf Hiroshima und Nagasaki geworfen wurden. Die Erfahrungen aus diesen Kooperationen wurden weiterhin beibehalten und ausgebaut.

Militärausgaben: Geschenk an die Industrie im Wachstumshunger

Die Abkehr vom Industrialismus aller Art ist eine der Voraussetzungen für ein Gelingen des Umstiegs auf eine Postwachstumsökonomie. An einer wünschbaren, zukünftigen Transformation weg vom Wachstum interessiert vor allem die industrielle Komponente des militärisch-industriellen Komplexes, deren Anteile es klar zu analysieren gilt. In die Zeit der Verschlankung der europäischen Ökonomien im Rahmen der „Lissabon-Strategie“ (März 2000), die Europa zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ (in: Wikipedia, „Lissabon-Strategie“) machen sollte, fallen unverhohlene Versuche mit dem Entwurf zum EU-Verfassungsvertrag eine gezielte Militarisierung der EU anzustoßen. Deutlich wird dies an der damaligen Absicht, Institutionen wie ein europäisches „Amt für Rüstung“ einzurichten. (1)

Damit würde der Industrie die Partnerschaft mit dem Militär auf dem Tablett zu serviert. Die Volksabstimmungen in Frankreich und Irland 2005 konnten – maßgeblich unterstützt von den sozialen Bewegungen wie attac – den geplanten Verfassungsvertragsentwurf damals auf den seit 2007 geltenden „Lissabon-Vertrag“ zusammenstutzen. In den darauf folgenden Jahren gab es dennoch erneute Anläufe, nun über die binationale französisch-deutsche Zusammenarbeit, das Wachstum im militärisch-industriellen Bereich zu steigern, bspw. mit dem Aachener Vertrag von 2019. Letzten Endes hat sich leider jegliche rüstungspolitische Zurückhaltung und jeder Versuch einer Entflechtung des militärisch-industriellen Komplexes vorläufig überholt mit dem vom Deutschen Bundestag Ende Februar 2022 durchgewinkten 100-Milliarden-Sondervermögen für die Bundeswehr und dem Anstreben des NATO-2 %-Ziels (jährliche! Aufstockung der Militärausgaben auf 2 % der Haushaltsausgaben).

Der ökologische Stiefelabdruck konkret

Staatliche Militärapparate gehören zu den größten Verbrauchern von Energie und anderen Ressourcen und verschlingen weltweit 1,8 Billionen Euro an Rüstungsausgaben, dabei sind Privat- und Söldnerarmeen noch nicht mitgerechnet. Die Armeen weltweit verursachen enorme Mengen an klimaschädlichen Emissionen: bei der Produktion, dem Handel, Export und Transport von Waffen, bei Manövern und vor allem durch Kriegseinsätze selbst und bei anschließenden Besatzungen.
Das US Militär ist mit seinen über 1000 Militärstützpunkten weltweit der größte Verbraucher fossiler Brennstoffe. Der jährliche CO²-Ausstoß des US-Militärs beträgt 73 Millionen Tonnen und damit mehr als die meisten (140) Länder. Im Jahr 2017 waren die Treibhausgasemissionen des Pentagons größer als die der Industriestaaten Dänemark oder Schweden zusammen.(2)

Solche Zahlen machen schwindelig, zumal bei einer Industrie, deren Produkte ja nicht „konsumiert“ werden können. Im Grund konnte Rosa Luxemburg schon damals das Kommen des Ersten Weltkriegs deshalb so gut voraussehen, weil sie beim Betrachten des angewachsenen und massiv aufgestauten technologischen Potentials der industriellen Produktivkräfte des frühen 20.Jahrhunderts erkannte, dass der Mehrwert nicht mehr systemimmanent verwertet werden konnte. Die Industrie „musste“ zur Rüstungsproduktion pervertieren, der Krieg war letztlich der „Konsum“ der aufgestauten Rüstungswaren. Nach zwei weiteren industriellen Revolutionen – wir befinden uns inzwischen bei „4.0“ – ist die Kapitalisierung der bisher noch nicht kapitalistischen Teile der Welt weit fortgeschritten, auch der Absatz von IT-„Produkten“ kommt an seine Grenzen. Nicht zuletzt deshalb ist auch der auffällige „künstliche“ Produktivitätsschub bei den militärischen Anwendungen zu verzeichnen. Lückenlose elektronische Überwachung, Drohnentechnologie, Cyber-War, Ausgreifen in den Weltraum heißen hier die Stichworte. Zuletzt fanden sich für das durch die weltweite lockere Geldpolitik im Übermaß vorhandene Geld-Kapital keine wirklichen Investitionsmöglichkeiten mehr, die sog. Zeitenwende war quasi „überfällig“.

Ist die Produktion von immer mehr Waffen das, was wir wollen?
Durch die militärische Aufrüstung ist das Erreichen der Klimaziele bedroht.


Woraus ließe sich lernen? Sinnen auf Auswege

Man könnte natürlich dem herkömmlichen Argument folgen, dass „der Krieg der Vater aller Dinge“ sei (in: Fragmente des Heraklit, B53), dass die Fähigkeit zum Ersinnen immer besserer neuer Waffen eine menschliche Grundkonstante darstellt und militärtechnische Entwicklungen ihre Avantgarde- bzw. Vorreiterfunktion immer behalten werden. Und sollten wir das Verhalten politischer Führungspersonen immer als letztlich am Militär ausgerichtet mitdenken? Versuchen hinzuschauen, wie es wirklich ist und war, hilft aus dieser Befangenheit. Befragen wir unsere deutschen Erfahrungen, können wir uns am Beispiel des Einfalls Hitler-Deutschlands in Polen 1939 fragen, ob ein entschlossenes, energisches Entgegenstehen der umliegenden Staaten hätte die schlimmeren Folgen verhindern können. Oder hätten sie einen Mann wie Hitler eher provoziert und befeuert? Kann jemand mit dieser Hybris gestoppt werden und wie? Eine Beurteilung des aktuellen Überfalls und Krieges Russlands gegen die Ukraine fällt genauso schwer und macht uns alle ratlos. Demgegenüber zeigt das Beispiel, das sich im Ruhrkampf 1923 (infolge des 1. Weltkrieges) abspielte, wie die deutschen Bürger*innen die Zusammenarbeit mit den französischen Besatzern verweigerten und erfolgreich zu Mitteln des passiven Widerstands griffen, und wie wirkmächtig und durchsetzungsfähig diese letztendlich doch sein können.

Auch mangels der geringen Zahl positiver Alternativbeispiele – ganz analog zu der Vorstellung einer Welt ohne Kapitalismus, die viele auch für scheinbar unmöglich halten – sollten wir diesen psychologischen Hemmfaktor, eine Welt ohne Militär sei undenkbar, für den Aufbau einer anderen, zukunftsfähigen Welt immerhin bedenken. Die existierenden positiven Beispiele, die zum großen Teil schon in den 1980er Jahren herausgearbeitet wurden, werden uns von einseitig interessierter Seite gern vorenthalten.

Die wichtigsten Vorschläge:

  • Beim Ziel der Auflösung des militärisch-industriellen Komplexes kommt es zunächst auf die Demontage von übergroßen Strukturen (NATO, EU; Ausnahme: UNO) an. Gerade die Zusammenlegung von nationalen zu internationalen Rüstungsprojekten, für die gern Einsparungen als Grund angegeben werden, erhöht im Gegenteil die Produktivität im Bereich militärischer Güter und beschleunigt ihre technologische Entwicklung.
  • Forciert und argumentativ gut begründet werden müssen Abrüstungsbemühungen.
    (dazu: Ulrike Herrmann, Untersuchungen zur britischen Kriegswirtschaft 1939 bis über 1945 hinaus, die „in guten Zeiten“ eigentlich die Blaupause für jede Wachstumstransformation mit einer anderen Gewichtung darlegt)
    Das gilt vor allem für die Abrüstung von Atomwaffen, die namentlich im Zusammenwirken mit der zivilen Nutzung der Kernkraft wahre Wachstumstreiber sind. Die Ächtung von Atomwaffen muss zudem in eine Ächtung des Kriegs übergehen durch die Institution UNO.
  • Wir können den Übergang von einer „Sicherheits-“ zur „Friedenslogik“ wagen, die die erwiesene Wirkkraft von Gewaltfreiheit anerkennt, die Erkenntnisse der Friedensforschung ernst nimmt, und dies auch offensiv vertritt.
    (in: Evangelische Landeskirche Baden, (Hrsg.) „Sicherheit neu denken“, Studie, 2018)
  • „Small is beautiful“ ist der Titel einer bekannten Aufsatzsammlung von E.F.Schumacher (1973). (Siehe Blog-Beitrag Rückkehr zu einer verantwortungsvollen Landwirtschaft – eine Utopie, Eine alte Idee – Die Regionalwirtschaft) Vorbild für die Zergliederung in kleine Strukturen ist für Schumacher die buddhistische Ökonomie des „weniger“ und der „Anpassung“ an die Voraussetzungen der Erde. Ohne pathetisch zu werden: Eine an der Wachstumsumkehr orientierte (Friedens-)politik sollte sich von Versöhnlichkeit und Ehrfurcht vor dem Leben bestimmen lassen kraft ihrer Sinnhaftigkeit. In einer Welt mit diesen Prämissen hat eine Aufrüstung der Weltgemeinschaft zu waffenstarrenden Verteidigungsblöcken, wie sie gegenwärtig wieder Fahrt aufnimmt, keinen Platz.
  • Sind die Vorschläge zu einer entschiedenen Friedenspolitik grundsätzlich machbar?
  • Könnten sie uns einer Einhaltung der Klimaziele näher zu bringen?
  • Muss den Ukrainern wirklich – auch in unserem Interesse – mit mehr Waffen geholfen werden?
  • Sollte von der Industrie eine Übergewinn-Steuer für militärische Produkte abverlangt werden?
  • Wir sind interessiert an eurer Meinung. Bringt euch ein! Am besten über unsere Kommentar-Box unten
Bildnachweis: S Greendragon auf Pixabay

Quellen

(1) dazu: https://www.europa-union.de/fileadmin7files_eud/PDF-Dateien/Verfassungskommentar_Text.pdf (2) Die Linke, BAG Frieden und internationale Politik der Partei, in: Flyer „Stoppt die Klimakiller Krieg, Militär, Rüstungsindustrie!“

Das Klima, Corona, der Russland-Krieg gegen die Ukraine… Einer Katastrophe folgt nonstopp die nächste. Jetzt „Weiter-so“?

  • Weiter mit dem Stress und der Hektik, den menschenverachtenden Bedingungen in der Arbeitswelt?
  • Weiter mit den wenigen Superreichen, die nicht mehr wissen, was sie mit ihrem Geld anfangen können – und den vielen, die in die Armut abrutschen und den Armen, die immer ärmer werden?…
  • Weiter mit der stetigen Erwärmung des Klimas – was uns ein erträgliches Leben verunmöglichen wird?
  • Weiter mit dem Artensterben, das die Natur, von der wir leben, aus ihrem sensiblen Gleichgewicht bringt?

In unregelmäßigen aufeinanderfolgenden Beiträgen, wollen wir von der AG „Wir haben genug“ attac Stuttgart verschiedene Aspekte der aktuellen Problematik aufgreifen und zur Diskussion stellen. Beteiligt euch. Mischt euch ein. Eine andere Welt ist möglich!