AG Wir Haben Genug – Haben wir genug Demokratie?

Unsere Demokratie kränkelt

Immer mehr Menschen sind unzufrieden mit unserer Demokratie in Deutschland und auch in Europa. Sie empfinden sie als immer weniger demokratisch und sich nicht repräsentiert durch die gewählten Vertreter, die für sie entscheiden. Die Unzufriedenheit und das Misstrauen in den Staat und gegenüber Politik, Politiker*innen und Parteien nimmt seit Jahrzehnten stetig zu. Die Politik gibt immer mehr Verfügungsgewalt ab an große Konzerne (Privatisierungen) und lässt sich Gesetzestexte von Lobbyist*innen ausarbeiten. Auf Behörden werden Bürger*innen oftmals obrigkeitsstaatlich behandelt und abgewimmelt. In Regierungskoalitionen blockiert man sich gegenseitig und kümmert sich hauptsächlich um Parteiengezänk. Politiker*innen bereichern sich mithilfe ihrer Ämter und gehen sehr lax um mit dem geistigen Eigentum von anderen, wenn es um die Erlangung eines Doktortitels geht. Parlamentarier*innen erhöhen sich ihre ohnehin hohen Diäten und beklagen die Wahlverdrossenheit. Wähler*innen sind frustriert, wollen nicht weiterhin immer nur ein kleineres Übel wählen, werden gar zu Protestwähler*innen von rechtsextremen Parteien oder gehen garnichtmehr zur Wahl. Ein Schulmädchen (Greta Thunberg, Fridays for Future) hat die derzeit größte weltweite Protestbewegung losgetreten durch ihren unverblümten, unerschrockenen Einsatz. Aber Politiker*innen wollen nicht verstehen. Als könnten wir uns die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen durch die drohende Klimakatastrophe leisten! Wissenschaftler*innen rufen den Alarm aus. Viele Gruppen engagierter Bürger*innen versuchen sich kundig zu machen in politikrelevanten Bereichen, haben viel Wissen erarbeitet und sind aktiv geworden. Wie kann es sein, dass normale Bürger*innen scheinbar besser Bescheid wissen, was nicht mehr geht und was geschehen sollte, wo sie doch viele Stunden in ihrem Beruf zubringen – und Politiker*innen, die ihre ganzen Tage zur Verfügung haben, schaffen es nicht, die grundlegendsten Dinge voranzubringen? Wo in der praktischen Politik können wir eine tatsächliche Kehrtwende sehen, die so notwendig ist? Wie können wir sie erreichen? Was könnte die Herrschaft des Volkes (was Demokratie im eigentlichen Wortsinn ja bedeutet) tatsächlich verwirklichen oder zumindest weitergehen damit? Wie kann man als Bürger*in eingreifen und ein Mehr an direkter Demokratie erreichen? Womit kann der Raum, der sich zwischen „denen da oben“ und der Bevölkerung auftut, sinnvoll gefüllt werden? Wie könnte demokratische Teilhabe an Entscheidungsfindung in einer Gesellschaft, die den Klimawandel ernst nimmt und aussteigen will aus dem Wachstumszwang des Immer-mehr von unnötigen Dingen (Postwachstumsgesellschaft) aussehen?

Mitdenken, mitmachen, mitentscheiden

Mittel und Möglichkeiten, die wir jetzt schon haben: Außer zu demonstrieren, Straßenaktionen durchzuführen, aufklärende Texte zu verfassen, Veranstaltungen zu organisieren… haben wir schon im Grundgesetz einige Möglichkeiten verankert, wie man sich als Bürger*in einbringen kann in die Meinungsbildung oder gar Entscheidungen. Doch sie werden nur sehr zögerlich zugelassen, die Hürden sind entweder sehr hoch (Stimmenanzahl) oder das Parlament hat das Recht, dann doch anders zu entscheiden. Ist festzustellen: Politiker vertrauen ihren Bürgern wenig, zumindest in Deutschland.
  • Petitionen Jede*r Bürger*in kann sich in Deutschland schon jetzt mit einer Petition an Staatsorgane wenden, das heißt mit einem Schreiben (Grundgesetz Art.17). Petitionen haben den Charakter einer Bitte. Allerdings kann eine große Zahl von Unterzeichnern (allem voran Prominente) einen gewissen Druck ausüben.
  • Volksentscheide Beispiel Schweiz: Die Schweiz ist das bekannteste Beispiel, sie hat schon viele Jahre überwiegend gute Erfahrungen mit vielen Volksabstimmungen gemacht. Bürger*innen können für sie wichtige Themen, Projekte… selbst einbringen. Schwierig ist, dass immer nur die Möglichkeit für „Ja“ oder „Nein“ zu stimmen besteht für ein zur Frage stehendes Thema. Es gibt keine Wegstreichungen oder Hinzufügungen von Teilen oder Differenzierungen. (1)(2) Auf den Fall in Deutschland von Stuttgart21 übertragen würde ein Volksentscheid bedeuten, dass die Formulierung der Fragestellung eindeutig und verständlich für jede*n sein muss! Sonst gibt es kein tatsächliches Meinungsbild. Der Vorwurf der Manipulation hängt in diesem Fall immer noch im Raum. Beispiel Bayern: In Deutschland ist die Möglichkeit für Volksabstimmungen und Bürgerentscheide (kommunal) in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlich geregelt. In Bayern sind die zu erreichenden Zahlen der Beteiligung (Quorum) niedriger angesetzt als in anderen Bundesländern. Dadurch kommen mehr Themen zur Abstimmung. Es sind gute Erfahrungen damit gemacht worden. Die Bürger gehen verantwortungsvoll damit um und stehen dann mehr hinter diesen Entscheidungen. Allerdings darf die Umsetzung dann nicht zu lange verschleppt werden. (Informationen: Mehr Demokratie e.V.) Bestimmte Themen sollten ganz von Volksentscheiden ausgenommen werden (im Grundgesetz), z.B. Todesstrafe wiedereinführen, Verstöße gegen das Völkerrecht oder Menschenrechte, menschenverachtende oder ausländerfeindliche Maßnahmen, Diskriminierung von Minderheiten, … Ganze politische Bereiche auszuklammern heißt jedoch, die Bürger*innen auszuschließen und ihnen Misstrauen entgegenzubringen, was derzeit der Fall ist.

Da geht noch mehr. Neue Formen der Mitmachpolitik

  • Bürgerräte Neben den Parlamenten kann zu aktuellen Fragen und Problemen eine Auswahl von Bürger*innen darüber beraten und ein zusätzliches Meinungsbild abgeben über den Willen der Bürger*innen. Letztendlich entscheidet aber das gewählte Parlament. Bürgerräte können ein Weg zu mehr direkter Demokratie sein und die Distanz zwischen Wähler*innen und Gewählten verringern. Sie können spontan aus der Bürgerschaft entstehen oder von der Regierung eingesetzt werden. Wahlen hierzu gibt es derzeit nicht. Dabei ist es wichtig, dass soviel wie möglich vor Ort erarbeitet wird, wo sich die Menschen auskennen und betroffen sind, also Meinungsbildung von unten nach oben, so wenig zentralistisch wie möglich aber auch weltweite Entwicklungen (z.B. Klimawandel) nicht aus den Augen zu verlieren. Auch Abstimmungen mit Skalen (lehne ich ab – trage ich mit) z.B. von 1 – 10 sind denkbar.Beispiel Kommunen: In insolventen Kommunen (leider nur da) gibt es vereinzelt neue Bürgermeister*innen, die über die geringen Mittel, die zur Verfügung stehen, die Bürger*innen abstimmen lassen, was verwirklicht werden soll (z.B. Hallenbad schließen oder kostenlose Schülerbeförderung abschaffen…). Das wäre ausbaufähig für positive Projekte.Beispiel DDR kurz vor der Wende: Es bildeten sich „runde Tische“ initiiert und getragen von engagierten Bürger*innen, die ein neues Staatswesen erarbeiten wollten. Leider wurden sie von den Entwicklungen auf der Straße überrannt.Beispiel Frankreich 2019: Die französische Regierung unter Präsident Macron hat einen Klima-Bürgerrat eingesetzt aufgrund breiter Unruhen. Die Auswahl der 150 Bürger*innen für den Bürgerrat erfolgte nach dem Zufallsprinzip per Los, Diversität wurde berücksichtigt (Alter, Geschlecht, Herkunft, Stadt- und Landbevölkerung…). Der Bürgerrat fand zunächst große Zustimmung. Seine Empfehlungen sollten zu einer Abstimmung der Bevölkerung (Referendum) führen. Tatsächlich wurde nur ein kleiner Teil der Empfehlungen ganz oder teilweise in ein Klimagesetzespaket übernommen, der Willen der Bürger*innen in vielen Punkten als zu weitgehend befunden. Ein Referendum blieb aus. Der/die mündige Bürger*in fühlt sich betrogen und ist empört. Noch einmal wird er/sie sich die Mühe nicht machen. Was von einigen gewählten Politikern sicher erwünscht ist. Dann darf man sich aber über Unruhen nicht wundern. (1)(2) Derzeit finden in einzelnen deutschen Städten (z.B. Görlitz, Stuttgart…) ähnliche Modelle der Bürgerbeteiligung statt. Die Erfahrung zeigt: Bürger*innen ziehen sich frustriert zurück, wenn ihr Engagement keine Würdigung und keinen Niederschlag im Handeln findet oder. Was von einigen gewählten politischen Akteuren sicher erwünscht ist. Doch Bürger wollen ernst genommen werden in ihrem Engagement und mitentscheiden.
  • Expertenräte Expert*innen können kenntnisreich und glaubhaft beraten. Entscheiden können sie nicht, sie können Entscheidungen jedoch beeinflussen. Sicher sind sie um vieles besser und legitimer als die Lobbyisten der Industrie. Dies ist eine Form der Mitbestimmung, die noch nicht ausprobiert wurde aber bestimmt auf breite Akzeptanz unter Bürger*innen stoßen könnte, wenn sie die Expert*innen mitbestimmen könnten. Gemischte Runden mit Bürger*innen und Expert*innen sind ebenfalls denkbar. Beide Sichtweisen könnten für das Gemeinwohl dabei zusammenkommen. Dagegen sollte Lobbyismus der Unternehmen, der Banken und Versicherungen generell nicht erlaubt sein.

Da muss noch mehr gehen. Gemeinsam ist es zu schaffen.

  • Habt ihr noch andere Ideen für wirksame Bürgerbeteiligung?
  • Habt ihr eigene Erfahrungen mit direkter Demokratie?
  • Wie könnte bei knappen Ressourcen entschieden werden?
  • Um ein System vollkommen umzugestalten, welche Anstrengungen könnten dabei vorwärts bringen?
Wir sind interessiert an eurer Meinung. Bringt euch ein! Am besten über unsere Kommentar Box unten. Quellen (1) https://www.buergerrat.de/aktuelles/prima-klima-durch-buergerraete (2) https://taz.de/Buergergremium-in-Frankreich/!5691065/   Bildnachweis: People photo created by rawpixel.com – www.freepik.com  

Nach der Corona-Krise: weiter so wie gehabt?

  • Weiter mit der stetigen Erwärmung des Klimas – was uns ein erträgliches Leben verunmöglichen wird?
  • Weiter mit dem Artensterben, das die Natur, von der wir leben, aus ihrem sensiblen Gleichgewicht bringt?
  • Weiter mit dem Stress und der Hektik, den menschenverachtenden Bedingungen in der Arbeitswelt?
  • Weiter mit den wenigen Superreichen, die nicht mehr wissen, was sie mit ihrem Geld anfangen können – und den vielen, die in die Armut abrutschen und den Armen, die immer ärmer werden?.

In unregelmäßigen aufeinanderfolgenden Beiträgen, wollen wir von der AG „Wir haben genug“ attac Stuttgart verschiedene Aspekte der aktuellen Problematik aufgreifen und zur Diskussion stellen. Beteiligt euch. Mischt euch ein. Eine andere Welt ist möglich!