AG Wir haben genug: Ein Ausflug nach PISA – Wo ist das beste ganze Land?
Wir wollen hier keinen Ausflug ins sonnige Italien unternehmen mit seinem schiefen Turm in der Stadt Pisa. Schief erscheint allerdings mit der Studie gleichen Namens auch manches. Alle paar Jahre hören, lesen wir von dem Schulleistungsvergleich, dem Ranking, das über die Qualität des Bildungssystems in den verschiedenen Staaten Auskunft geben soll. Plätze, wie die Noten in einzelnen Schulfächern, werden diesmal für die Schulen vergeben. Schulleiter*innen und Lehrer*innen geraten seit der ersten dieser Untersuchungen im Jahre 2000 und dem darauffolgenden „PISA-Schock“ immer wieder in zusätzlichen Stress. Denn die Pisa-Studie stößt allgemein auf großen Respekt. Die wenigsten finden sich jedoch an der Spitze wieder. Wer will sich aber, wenn er/sie sich tagtäglich engagiert einsetzt, von den Eltern eine schlechte Arbeit vorwerfen lassen?
Wer oder was ist PISA?
Was sich dahinter verbirgt, ist vielen eher unbekannt: PISA, „Programme for International Student Assessment“, ein Testverfahren also. Wer aber hat sich das PISA-Testverfahren ausgedacht? Wer die Kriterien, nach denen beurteilt wird? Wozu wird verglichen? Wer steckt eigentlich hinter PISA?
PISA: Die Motivation zu einer vergleichenden Bildungsstudie – das dürfen wir vermuten – kommt aus der Wirtschaft, da die Idee von der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) ausgeht. Stiftungen von international agierenden Großkonzernen (darunter Bertelsmann, Telecom, Bosch, Mercator/Metro) sind beteiligt. Ziel ist, die Leistungen von Schüler*innen auf internationaler Ebene zu vergleichen und damit auch die Bildungssysteme.
Plan B: Demgegenüber hat die UNESCO zur Aufgabe, Bildung, Bildungsgerechtigkeit, Wissenschaft und Kultur in allen Ländern zu fördern und Chancengleichheit herzustellen. Die UNESCO ist eine Sonderorganisationen der Vereinten Nationen (UN od. UNO). 1945, nach Ende des 2. Weltkrieges, wurden die UN von der Mehrheit der Staaten ins Leben gerufen, um den Weltfrieden zu sichern und weitere Kriege zu verhindern. Unter- od. Sonderorganisationen kümmern sich weltweit um verschiedene Bereiche im Sinne der UN-Richtlinien und allgemeinen Menschenrechte, so die UNESCO.
Schauen wir uns PISA, wie von der OECD aufgelegt, mal genauer an: Bedingungen, Aufmachung, Durchführung, Auswertung.
Wird PISA mit den gesetzten Bedingungen ihrer Aufgabe gerecht?
Die Teilnahme an dieser Studie ist freiwillig. Es beteiligten sich zuerst ca. 30 Länder (von weltweit 193 Staaten), zunehmend mehr. Viele Staaten nehmen gar nicht daran teil, vornehmlich die, in denen das Schulsystem wenig ausgebaut ist und nicht alle Kinder zur Schule gehen, bzw. sie nicht besuchen, bis sie 15 Jahre erreicht haben, und auch Länder und Schulen, die sich selbst nicht so gut einschätzen. Das Ranking betrifft nur wenige wirtschaftlich eher hochentwickelte Staaten – eine privilegierte Elite? Kann man dieses Ranking dann berechtigterweise „international“, im Sinne von weltweit anerkannt, nennen?
Selbst wenn wir die Objektivität der Tests anerkennen wollten – was wir erstmal noch kritisch hinterfragen möchten –, ist dann davon auszugehen, dass dem Ziel, die Chancengleichheit von Schüler*innen und Ländern zu erhöhen, damit entsprochen wird? Kann von Förderung der Bildung gesprochen werden? Das Ranking verrät nicht, WIE wir die Leistungen verbessern können (didaktische Hinweise) – nicht den Staaten, nicht den Schulen, nicht den einzelnen Lehrer*innen. Wie sie damit verfahren, bleibt weiterhin ihnen überlassen. Ursachen für schlechtes Abschneiden, um nachzuarbeiten, werden nicht genannt. Ein Ranking, als sei es ein Sportwettbewerb.
Getestet werden pro Land mind. 5000 Schüler*innen (Stichprobe) im Alter von 15 Jahren (in Deutschland Stand der Mittleren Reife). Der Test findet alle 3 Jahre statt. Nehmen die selben Länder wiederholt teil, könnte an der Punktzahl eine Verbesserung oder Verschlechterung der Leistungen sichtbar werden. Getestet wurde das erste Mal im Jahr 2000. Die Durchführung, Organisation und Koordination der PISA-Studie hat in Deutschland das Max-Planck-Institut, das unabhängig von Wirtschaft und Politik arbeitet. Die Auswertung findet in Australien statt.
Die Tests sind anonymisiert, sie geben keine persönliche Leistung von einzelnen Schüler*innen wieder. Nur das Abschneiden der gesamten Länder-Stichprobe (mind. 5000 Schüler*innen) wird erfasst. Die Aufgaben liegen im mathematischen, sprachlichen (Lesekompetenz) und naturwissenschaftlichen Bereich.
Wie aussagefähig ist PISA?
Die Mehrzahl der Aufgaben besteht aus Multiple-Choice-Fragen mit vorgegebenen Antworten zum Ankreuzen (wie von Frederic J. Kelly, Lehrer, 1914 für die leichtere Beurteilung großer Anzahlen zu korrigierender Arbeiten erdacht, bald aber von ihm selbst angezweifelt). Die Schüler*innen arbeiten dabei ausschließlich am Computer. Wer pokert, kreuzt auch bei Nichtwissen an und hat die Chance, wenigstens ein paar Punkte mehr herauszuschlagen. Wenn‘s gut geht, erreicht man damit (rechnerisch) ein Drittel der erreichbaren Punktzahl. Das verfälscht allerdings das Ergebnis.
Welche Maßstäbe, Kriterien werden bei den Fragestellungen angelegt? Darüber erfahren wir nichts. Auch nichts darüber, wer die Köpfe hinter diesen Erhebungen sind. Welche Befähigung haben sie? Sind Schulpädagogen, Lernpsychologen dabei – oder erstellen firmengeschulte IT-Fachleute, die Computergewohnt mit Ja/Nein-Herangehensweisen (0/1) umgehen? Abgeschaut von den Assessment-Centern für die Bewerberauswahl des Leitungspersonals? Die Fragen werden geheim gehalten, nur Beispiele veröffentlicht. Noch verwunderlicher ist, das Multiple-Choice-Verfahren wurde nie hinterfragt. Keine Regierung oder Bildungsministerium kam auf diese Idee. Der Glaube der Regierungen und Schulen daran ist weithin ungebrochen, unangefochten erstrecht. Doch: Ist jemals wissenschaftlich überprüft (Evaluation) und offengelegt worden? Kann man die Ergebnisse also als gültig ansehen (Validität)? Treffen sie eine gültige, qualitative, nutzbringende Aussage? Genügen sie ihren eigenen Maßstäben?
Die Handhabung ist in den einzelnen Staaten unterschiedlich. Nicht nur nehmen einzelne Länder nicht teil. Wegen geringer Beteiligung sollten Schulen in manchen Ländern sogar mit Belohnungen zur Teilnahme animiert werden. Auch für die Jugendlichen sieht die Teilnahme recht unterschiedlich aus.
Beispiele:
- In Finnland sind Legastheniker*innen vom Test befreit. Ein paar schlechte Ergebnisse fallen also weg. In manchen Ländern wurde gerade schlechteren Schüler*innen empfohlen, sich am Test-Tag krank zu melden.
- In Deutschland, wo frisch eingereiste Ausländerkinder immer noch oft in vorhandene überfüllte Klassen gesteckt werden, ohne Zeit für sie, können diese Kinder kaum hohe Punktzahlen erreichen. Wer nicht genügend Deutsch versteht, wird nicht nur im Leseverstehen schlecht abschneiden, manche Mathematik-Textaufgabe oder Aufgabenstellungen im naturwissenschaftlichen Bereich wird er/sie nicht oder unvollständig verstehen. Für Fremdsprachler*innen gilt überhaupt: Solange jemand einen Text nur ungefähr versteht, kann er/sie auch Anweisungen zur Ausführung der Aufgaben schon nicht verstehen, in welchem Fach auch immer. In nicht wenigend eutschen Schulklassen sind die deutsch sozialisierten Kinder weniger als die Hälfte. Das schlägt sich in der Punktzahl der Stichprobe nieder. Staaten mit einem hohen Ausländeranteil (evtl. bei wiederholter Teilnahme nach jew. 3 Jahren, da Migration oft in Wellen geschieht) werden im Vergleich zwangsläufig schlechter abschneiden. Für das Nicht-Verstehen der Anweisungen spricht auch, dass manche Jugendliche (ca.10 %) nicht nur jeweils eine Antwort angekreuzt haben – und damit „falsch“.
Kritiker*innen sehen in PISA ein Abfragen von simplem abstrakten Fakten-Wissen, bei dem nur die erreichten Punkte zählen (quantitative Auswertung). Nach dem Aufschrei nach der ersten Durchführung haben Wissenschaftler*innen aus unterschiedlichen Fachbereichen den PISA-Test eingehenden qualitativen Untersuchungen unterzogen und wissenschaftliche Standards angelegt. Sie sind auf kritische Punkte gestoßen. Bemängelt wird, dass die Mathematikaufgaben teilweise fehlerhaft oder irreführend formuliert sind. Generell seien die Fragen zu konsumorientiert (auf maximales Kaufen und Verbrauchen hingesteuert) und zu sehr am kapitalistischen Arbeitsmarkt (mit seiner Verwertbarkeit im IT-Bereich?) ausgerichtet. Die Auftraggeberin lässt darauf schließen. Unter Fachleuten ist PISA umstritten. Einige urteilen, dass damit versucht werde, Einfluss auf Politik und Gesellschaft zu nehmen. Man würde junge Menschen „(…)weltanschaulich so auf Linie bringen, dass sie den Anforderungen einer globalen Wirtschaft genügen.“ (Günter Grau, Publizist, 2017).
Der Faktor Zeit spielt hierbei auch keine unwesentliche Rolle. Für jede Aufgabe steht nur begrenzte Zeit zur Verfügung. Die Jugendlichen stehen unter erheblichem Zeit-Druck. Nicht deutsch-sozialisierte Kinder könnten evtl. mehr der Aufgaben richtig lösen, wenn ihnen dafür mehr Zeit zugestanden würde. Und auch langsamere Muttersprachler*innen brauchen manchmal mehr Zeit. Die Richtigkeit der Ergebnisse kann nicht mit der dafür verbrauchten Zeit gleichgesetzt werden. Für 15jährige Schüler*innen sollte es nicht schon – wie in der Industrie – um die Schnelligkeit der Leistungen gehen. Es gibt in Deutschland Vermutungen, hinter PISA stecke die Absicht, auf längere Sicht gesehen, die humanistische Bildung vollends abzuschaffen.
Die Macher der Studie haben bisher selten Mängel eingeräumt und nur wenn die Nachweise recht offensichtlich waren, meist haben sie dementiert und abgewiegelt. Das wirft Fragen auf. Im Nachhinein stellen sie selbst PISA als „Auftragsforschung“ und interessengeleitet dar.
Für die Autoren der Studie ist es ein eintragsreiches Geschäft. Für die Wirtschaft ist an der Rangliste (evtl.!) ablesbar, wo sie die besten Arbeitskräfte rekrutieren kann. Doch den Zielen „Chancengleichheit und Verbesserung der Lebensqualität“ weicht PISA aus. Die Schulen führt sie auf falsche Geleise.
Bleibt zuletzt noch die Feststellung: Die Auswertung der PISA-Studie erfolgt per Computer. Multiple-Choice kann dieser lesen. Eine Auswertung durch Fachpersonal wäre unverhältnismäßig zeitumfänglich und teuer. Diese ökonomische Überlegung gibt evtl. auch den Ausschlag für dieses Verfahren.
Fazit
Liebe Schulen, liebe Lehrer*innen, liebe Schüler*innen: Lehnt euch zurück. Lasst euch nicht in weiteren Stress bringen. Die PISA-Studie ist vielleicht interessant, eine objektive, fundierte Sicht liefert sie nicht. Sie erweist sich letztlich als ein Instrument interessengeleiteter Förderung der bekannten gezielten Wachstumssteigerung für die Wirtschaft. Das gehört in eine lange Reihe der Einflussnahme und Manipulation von Wirtschafts-Lobbyisten (Siehe Blogbeitrag „Fortschritt, der zur Bedrohung wird“). Brauchen die Schulen das? Konzepte von Bildungspolitik sind am ganzheitlichen „Wachstum der Kinder und Jugendlichen“ auszurichten, an Bildungsgerechtigkeit für alle. Soll es um Verbesserung von Chancengleichheit gehen, braucht es Handlungsmöglichkeiten. Da ist mehr an individueller Unterstützung gefragt, für die die Voraussetzungen geschaffen werden müssen: von der Politik. Das geht mit mehr Lehrer*innen, einem grundsätzlichen Wandel im System Schule, mit mehr Geld dafür – und das nicht erst in zig Jahren. Deutschland als reiches Land kann sich eine gute Bildung für seine Jugend leisten, wenn es nur will. Dazu ist eine gerechte Steuerpolitik nötig und möglich, um zu steuern – und Politiker*innen, die das verwirklichen, auch bei massivem Gegendruck durch seither reiche Privilegierte.
Wir haben einen Plan B: Bildungsgerechtigkeit.
Eine andere Schule, eine andere Welt ist möglich.
Tipp: Im Juni diesen Jahres ist nun das erste Mal eine „Sondererhebung zum kreativen Denken“ dazugekommen. Den Verfassern der PISA-Studie ist wohl auch aufgefallen, dass da was fehlt und zu kurz greift. Beispiel-Aufgaben dieses Kreativ-Tests sind veröffentlicht worden. (in: Deutsches Schulportal der Robert Bosch-Stiftung) Im Herbst sollen die Ergebnisse vorliegen. (in: Nachrichten, Deutschlandfunk Kultur, 18.Juni 2024)
Infos zu den ergänzenden differenzierten, qualitativen Schulleistungstests (nach wissenschaftlichen Standards), die als Reaktion in Deutschland zusätzlich in einzelnen Bundesländern durchgeführt werden, gibt es im Internet. (dazu könnt ihr googeln)
- Wie müsste eine Bemessung und eine aussagefähige Beurteilung unseres Bildungssystems aussehen?
- Wenn ihr ab morgen bestimmen könntet, wie das Schulsystem in Deutschland sich ändern sollte, welche Ideen hättet ihr dazu?
- Was meint ihr? Wir sind interessiert an eurer Meinung.
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