AG Wir haben genug: Bevölkerungswachstum – das „Königswachstum“ unter den Wachstumsthemen?
Die Vereinten Nationen veröffentlichen alle paar Jahre einen Bericht mit Prognosen zur Entwicklung der Weltbevölkerung. Der jüngste sagt voraus, dass diese 2084 mit 10,3 Mrd. ihren Höchststand erreicht haben könnte. Solche Voraussagen sind immer begleitet von negativen und positiven Extremszenarien. Diese lauten in der Version der UN, dass die Menschheit von heute 8,2 Mrd. bis 2100 auf 14 Mrd. anwachsen könnte – oder sie erreicht schon 2053 mit knapp 9 Mrd. den „Peak“, den Höchstpunkt (vgl. https://www.nzz.ch/international/weltbevoelkerung-2024-die-neusten-vorhersagen-der-uno-in-grafiken-nzz-ld.1838988).
Statistik ist zum Grundhilfsmittel für die Beurteilung unserer Lebensbedingungen geworden, nicht zuletzt auf dem Feld, das uns in unserer attac-AG „Wir haben genug“ am meisten angeht, dem der Wachstumskritik. Immer mehr Wissenschaften versuchen, mit statistischen Methoden Blicke in die Zukunft zu tun. Zukunftsforschung, Klimaforschung, Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaften, sie alle schauen gebannt auf in Rechenmodellen abgebildete mutmaßliche Entwicklungen, lassen sich dabei, wie es manchen, z. B. den „Klimaleugnern“ scheinen möchte, oftmals den Blick sogar verengen. Und die schwerwiegendsten Aussagen, was die Entwicklung von zukünftigem Wachstum angeht, trifft unter allen anderen die Disziplin der Bevölkerungsforschung (Demographie). Das Bevölkerungswachstum wäre in Analogie zu Marx´ Definition des Gelds als Königsware das eigentliche Königswachstum.
Die klassische Problemstellung: Thomas Malthus´ Sicht auf die Bevölkerungsentwicklung
Aussagen zur Entwicklung des Bevölkerungswachstums stehen ganz am Anfang der Gesellschaftswissenschaften, wie wir sie seit 200 Jahren, seit dem Beginn des „Kapitalozäns“ (Harald Lesch) kennen. Der anglikanische Pfarrer und Ökonom Thomas Malthus entwickelte 1798 in seinem „Essay on the Principle of Population“ seine pessimistischen Überlegungen zum „Bevölkerungsgesetz“ und beeinflusste damit entscheidend sowohl die Evolutionstheorie von Charles Darwin als auch die Gesellschafts- und Wirtschaftstheorie von Karl Marx.
Malthus nahm an, dass eine sich mit der Zeit entwickelnde absolute Überbevölkerung regelmäßig dem sich daraufhin einstellenden Nahrungs-, Ressourcen- und Versorgungsmangel wieder zum Opfer fallen würde. Das nennt man seitdem das Malthus´sche Gesetz. Marx, der sich unter den ökonomischen Theorien seiner Zeit aufmerksam umsah, war bestrebt, seine von Hegel übernommene idealistische Sicht der Welt- und Bewusstseinsentwicklung materialistisch, also ökonomisch zu unterbauen. Er erkannte, dass die von Malthus entdeckten Gesetzmäßigkeiten des Bevölkerungswachstums auf Anstoß und Gegenreaktion aufbauten und damit seiner sich entwickelnde eigenen Theorie des dialektischen Zusammenspiels von Produktion, Arbeitskraft und deren ständig notwendiger Reproduktion direkt entsprachen. Er behauptete nun aber, dass unter Zuhilfenahme und Nutzbarmachung der fortschreitenden technischen Möglichkeiten der Ressourcenvorrat sich immer weiter ausweiten werde und eine jetzt so genannte relative Überbevölkerung durchaus am Leben halten könne. Das daraus resultierende ständige Bevölkerungswachstum war nach ihm somit die Voraussetzung des ebenfalls ständig wachsenden kapitalistischen Systems. An Grenzen des Wachstums dachte Marx damals noch nicht, schon gar nicht daran, dass Ressourcen eines Tages knapp werden und zu Ende gehen könnten, und der räuberische Abbau (Extraktionismus) die Umwelt belasten und die Zukunft gefährden werde.
Überbevölkerung: ein Gang durch die Geschichte
In früheren Zeiten bis hinauf ins späte Mittelalter waren zur Vermeidung von Überbevölkerung Methoden wie die Aussetzung von Kindern oder die Kindstötung gang und gäbe und wurden nicht oder kaum strafverfolgt. Es gab zudem ein entwickeltes Wissen über Empfängnisverhütung, das vor allem in der weiblichen Bevölkerung von sog. Weisen Frauen und Hebammen weitergegeben wurde, vergleichbar mit dem von uns heute geschätzten Wissen indigener Völker. Mit der Entwicklung der Nationalstaaten und der frühen Finanz- und Kapitalwirtschaft stieg, verstärkt durch den Bevölkerungsrückgang durch Pest, Hungersnöte und Kriege um 1400, der Bedarf der Mächtigen an Menschen als Arbeitskräfte, Soldaten usw. Die bisherigen Methoden der Bevölkerungsbegrenzung wurden in Frage gestellt, bekämpft von der weltlichen und assistiert von der kirchlichen Obrigkeit, für die die Weisen Frauen mit einem Mal Hexen waren und von der Inquisition in Hexenprozessen vor Gericht gestellt wurden.
Viel Bevölkerung galt jahrtausendelang als Bedingung für Wohlstand. Frauen bekamen noch vor 100 Jahren 10-12 Kinder. Viele Kinder starben schon im Kleinkindalter, und viele Frauen im Kindbett, die Bevölkerungsentwicklung stagnierte regelmäßig. Mit Malthus und mit den Emanzipationsbewegungen ab 1850, die die individuellen Freiheitsrechte insb. der Frauen einforderten, kam das Problem der Überbevölkerung prominent in den Blick. Der Widerstand gegen das Abtreibungsverbot, in Deutschland gegen den § 218, war einer der wichtigsten Kämpfe des frühen und klassischen Feminismus und ist es bis heute. Solcher Widerstand konnte auch direkt politisch intervenieren. Bert Brechts im Gedicht vorgetragene Aufforderung zu Abtreibungen etwa richtete sich darauf, den zum Faschismus pervertierten traditionellen Gesellschaftsmodellen namentlich in Nazi-Deutschland die Kinder zu versagen, die doch nur zu mehr Kriegen eingesetzt würden.
Parallel dazu entwickelten sich in der ersten Hälfte des 20. Jhdts. die medizinisch-biologischen Methoden der Verhütung, verbunden mit Namen aus der Forschung wie Haberlandt, Glauberg (einem Nazi) und Djerassi, dem 1951 die Erfindung der ersten „Pille“ gelang. Nach einem weltweiten konservativen gesellschaftlichen Rückwärtsschritt in den 1950er Jahren, dem sog. „Golden Age of Marriage“, aus der die „Boomer“-Generation stammt, stand Ende der 1960er Jahre definitiv die „Zweite Frauenbewegung“ bereit. Mit ihr verselbständigten sich aufgeklärte moderne Ansichten zur Familienpolitik rasch und führten in den westlichen Gesellschaften ab 1970 zu einem deutlichen Knick in der Anzahl der Geburten.
China nahm sich als erstes Land 1980 mit der Ein Kind-Politik eine Begrenzung der Bevölkerungsentwicklung zum Ziel. Zuvor war seine Bevölkerung nach einem starken Rückgang durch bürgerkriegsbedingte Hungersnöte ab 1950 staatlich gefördert worden und mehr als rasant gewachsen. Und wohl nicht zufällig und ungefähr zur gleichen Zeit zog mit dem zunehmenden Bewusstwerden von ökologischen Zusammenhängen vom Erscheinen des Berichts des Club of Rome zu den „Grenzen des Wachstums“ im Jahr 1972 an das „Zeitalter der Zukunftsangst“ herauf, die uns heute vielfach im Griff hat. Der Bericht zeigte das Problem an und formulierte zuerst die Notwendigkeit einer Wachstumsumkehr.
Für die heute von uns so genannten Länder des Globalen Südens hingegen, die die Mehrzahl der Weltbevölkerung stellen, behielt das Malthus´sche Gesetz bis weit ins 20. Jhdt. hinein seine Gültigkeit. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg und mit der Epoche der Dekolonialisierung trat hier ein Wandel ein. Entscheidend trugen dazu das Kinderhilfswerk der UNO UNICEF und die WHO bei, die sich als Teilorganisation der UNO seit ihrer Gründung 1948 insbesondere die Besserung der hygienischen Verhältnisse und der medizinischen Grundversorgung in unterentwickelten Ländern und Programme gegen den Hunger zum Ziel gesetzt hat.
Eine zur Abwechslung mal willkommene Wachstumsumkehr!?
Ist es nicht auffällig, dass von allen „Wachstümern“ nur das Bevölkerungswachstum definitiv kritisch gesehen wird, ganz anders als das im BIP gemessene ökonomische Wachstum? Der Grund ist, dass die Diskussion über das Bevölkerungswachstum in ethische Dimensionen führt. Die Menschenrechte und der Wert jeden einzelnen Lebens sind für uns zum unverrückbaren Richtmaß geworden. Gleichzeitig gefährdet eine zu dicht bevölkerte Welt die Ermöglichung eines Guten Lebens für alle. Wirtschafts- und Gesellschaftstheorien, die sich zum Ziel gesetzt haben, mehr Menschenfreundlichkeit in der Welt durchzusetzen, beschäftigen sich daher immer auch verantwortlich mit Einschätzungen und Gestaltungsmöglichkeiten des Bevölkerungswachstums. Eine eindeutige Linie wird in den Institutionen der UNO mit der Auffassung vertreten, dass mehr Bildung bei Frauen weltweit zu weniger Geburten führt, und man dem Problem auf diese Weise entgegentreten kann. Kostenlose Verhütung sollte weltweit verbreitet möglich sein. Die Ansätze zeigen Wirkung.
Als AG Wir haben genug von attac Stuttgart sagen wir zusätzlich: zu mehr Bildung, zu mehr Bewusstsein unserer Verantwortung für das Leben auf dem Planeten Erde wird vor allem die Verwirklichung von mehr Gerechtigkeit weltweit führen! Eine andere Welt ist möglich!
- Wer könnte eine verantwortliche Welt-Bevölkerungspolitik steuern?
- Wie ist eure Meinung zur Pflicht, den medizinischen Fortschritt für alle Menschen bereitzustellen?
- Was braucht es für die Entwicklung einer Ethik der ausgleichenden globalen Gerechtigkeit?
Wir sind interessiert an eurer Meinung. Bringt euch ein! Am besten über unsere Kommentar-Box unten.
Das Klima, Corona, Flucht- und Armutsmigration, die Kriege in der Ukraine, im Nahen Osten und anderswo: unsere Zukunftshoffnungen sind stark beschädigt. Jetzt immer „Weiter so“?
- Weiter mit der stetigen Erwärmung des Klimas – was uns ein erträgliches Leben verunmöglichen wird?
- Weiter mit dem Artensterben, das die Natur, von der wir leben, aus ihrem sensiblen Gleichgewicht bringt?
- Weiter mit dem immer monströser werdenden Gegensatz von Reich und Arm, mit den vielen, die hier und im Globalen Süden in die Armut abrutschen, mit den Armen, die immer ärmer werden?…
In unregelmäßigen aufeinanderfolgenden Beiträgen, wollen wir von der AG „Wir haben genug“ attac Stuttgart verschiedene Aspekte der aktuellen Problematik aufgreifen und zur Diskussion stellen. Beteiligt euch. Mischt euch ein.
Eine andere Welt ist möglich!